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European Focus #51: Bahnfahren in Europa: Die Entdeckung der Langsamkeit

Schlecht, schlechter, Bahn +++ Zahl der Woche: 70 +++ „Es braucht mehr europäisches Denken“ +++ Neue alte Liebe +++ Ausgebremste Abenteuerlust

Hallo aus Skopje,

Züge sind allgegenwärtig. Ob Hochgeschwindigkeitszug oder Bimmelbahn, ob todschick und modern oder aus Zeiten des Staatssozialismus in das Hier und Jetzt gerettet: unser Kontinent, sein Verkehr und seine Entwicklung ist ohne die Bahn undenkbar.

Man muss sich fragen: Warum hat die Bahn so einen schlechten Ruf; warum ist sie so unbeliebt – nicht nur in Deutschland? Sind Billigflüge und der Komfort des eigenen Autos der Todesbringer für die Schiene? Ist Zugfahren ein Ding der Vergangenheit? Was könnte besser gemacht werden?

Bei der Redaktionssitzung für diese Ausgabe wurde eines schnell klar: das Thema ist höchst komplex – und angesichts des mangelnden Ausbaus, ausbleibender Modernisierung, unterschiedlicher Spurweiten, zeitraubender Grenzübergänge und klaffender Lücken in der bestehenden Infrastruktur kann man schnell Kopfschmerzen bekommen.

Eine EU-Initiative, mit der dieser wichtige Verkehrszweig wiederbelebt werden soll, ist offenbar nicht ausreichend. Mancherorts sind die Züge wortwörtlich an ihrer Endstation angelangt.

Was wir brauchen, ist eine gemeinsame europäische Denkweise für die Schiene – und dann eine Menge gemeinsamer Arbeit, um die Bahn wieder in die Spur zu bringen.

Siniša-Jakov Marusic, dieswöchiger Chefredakteur

Schlecht, schlechter, Bahn

Eines der touristischsten Reiseziele Europas ist seit Jahren nicht mehr per internationalem Schienenverkehr zu erreichen. Auch für die inländischen Verbindungen in Griechenland sieht es düster aus. Chronische Geld- und Personalknappheit, Korruption und die Missachtung von EU-Vorschriften sind die Hauptursachen für den Niedergang.

Im Jahr 2011 wurden die Züge, die Thessaloniki mit den Balkanstaaten und dann mit dem Rest Europas verbinden, von der griechischen Regierung eingestellt. 2014 wurden sie kurzzeitig wieder aktiviert, nur um dann endgültig gestrichen zu werden.

Der von den türkischen und griechischen Bahngesellschaften gemeinsam betriebene Zug von Thessaloniki nach Istanbul wurde 2005 in Betrieb genommen, aber 2011 aufgrund von Sparmaßnahmen beim damals staatlichen griechischen Unternehmen TrainOSE eingestampft.

Offensichtlich können viele Bahnverbindungen in Griechenland einfach nicht mit Autos, Bussen und Flugzeugen mithalten. Die Strecke Thessaloniki-Alexandroupolis beispielsweise, die wichtigste inländische Eisenbahnlinie, leidet unter Personalmangel und ausbleibender Wartung und Modernisierung.

Die Infrastruktur befindet sich in einem grauenhaften Zustand, sodass für die 440 Kilometer lange Strecke aktuell achteinhalb bis neun Stunden eingerechnet werden müssen. Laut Verkehrsexperte George Nathenas sind diese Probleme auch für das Ende der Thessaloniki-Istanbul-Verbindung verantwortlich.

In den vergangenen 30 Jahren sei die Modernisierung des griechischen Schienennetzes – trotz durchaus zur Verfügung stehender Mittel – ein einziger Misserfolg gewesen.

Insbesondere die von IWF, EU und der griechischen Regierung durchgesetzten Austeritätsmaßnahmen im Zuge der Finanzkrise 2007/8 hätten zu „Entlassungen erfahrener Bahner und der Zerschlagung der staatlichen Bahngesellschaft in einzelne Privatunternehmen geführt, die sich vor lauter Konkurrenzdenken nicht untereinander verständigen können,“ so Nathenas.

Und es geht noch schlimmer: Im vergangenen Februar starben 57 Menschen bei einem Frontalzusammenstoß zweier Züge. Es gab landesweite Trauer – und Proteste. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zeigen, dass das automatische System zur Umleitung von Zügen, das den menschlichen Fehler hätte verhindern können, schlicht nicht funktionierte.

Im September verursachte derweil ein Sturm schwere Schäden am Schienennetz. Die Regierung versprach eine vollständige Reparatur der betroffenen Bahnstrecken – allerdings erst in den kommenden eineinhalb Jahren. Selbst wenn dieses Ziel erreicht wird, wäre es nur ein Tropfen auf den heißen Stein der Probleme im griechischen Bahnsystem, die endlich gelöst werden müssen.

Eleni Stamatoukou ist eine griechische Journalistin. Sie arbeitet aus Athen für Balkan Insight.

Zahl der Woche: 70

Wenn es ein Guinness-Buch der Negativrekorde gäbe, könnte man sicherlich einige Seiten für den rumänischen Bahnkonzern CFR reservieren. Da das Land in der Mitte von den Karpaten durchzogen wird, waren Verkehrsverbindungen zwischen den Nord- und Südteilen Rumäniens schon immer von hoher Bedeutung.

70
km/h beträgt die Durchschnittsgeschwindigkeit der Züge in Rumänien knapp – genauso schnell wie vor 150 Jahren.

Die Bahn spielte dabei eine entscheidende Rolle. Sie merken schon am Präteritum: Das war einmal. Heute fällt das Schienensystem buchstäblich auseinander.

70 Prozent der Bahnstrecken sind sanierungsbedürftig. Die Durchschnittsgeschwindigkeit der Züge beträgt weniger als 70 km/h – genauso schnell wie vor 150 Jahren. Drei von vier Zügen sind verspätet. Im Jahr 2022 entsprach die Gesamtzahl der herausgefahrenen Verspätungen nicht weniger als acht Jahre.

Boróka Parászka ist Journalistin und Redakteurin bei hvg.hu. Sie lebt im rumänischen Târgu Mureș.

„Es braucht mehr europäisches Denken“

Jon Worth hat vermutlich jede Bahnverbindung Europas schon einmal genutzt. Der Gründer der Plattform Trains for Europe kommentiert regelmäßig die Bahn-Lage auf dem Kontinent.

Europa hat ganz grundsätzlich ein vergleichsweise gut ausgebautes Schienennetz. Ist das nicht eine gute Ausgangslase für einen perfekt vernetzten Kontinent?

Klar, das Problem ist aber: Wir haben kein echtes europäisches Eisenbahnnetz. Vielmehr gibt es 27 nationale Netze mit einigen wenigen internationalen Verbindungen dazwischen. Ja, es gibt grenzüberschreitende Linien – aber diese sind alle von geringerer Qualität und werden deutlich weniger genutzt als die nationalen Strecken.

Das kann man mehr oder weniger an jedem Grenzübergang zwischen europäischen Ländern sehen. Es gibt sogar Fälle, in denen ein Zug vor der Grenze hält und die andere Fahrt ein paar Kilometer hinter der Grenze beginnt – ohne dass dazwischen irgendeine Verbindung wäre. Meiner Ansicht nach ist das das Hauptproblem. Es braucht mehr europäisches Denken in Sachen Zugverkehr.

Hinzu kommen allerdings technische Herausforderungen. So gibt es nicht überall dieselbe Spurbreite oder aufeinander abgestimmte elektrischen Systeme…

Das stimmt. Allerdings sind diese technischen Probleme weniger gravierend als die Mentalitäts- und Koordinationsprobleme. Zwischen Spanien und Frankreich gibt es beispielsweise unterschiedliche Spurbreiten, aber das Wichtigste für gute Verbindungen wäre, dass die nationalen Fahrpläne koordiniert werden, damit die Fahrgäste entspannt umsteigen und den nächsten französischen oder spanischen Zug nehmen können. Für solche Probleme gäbe es einfache Lösungen – wenn die Unternehmen denn dazu bereit wären.

Viele Menschen wollen „grüner“ reisen; Kurz- und Billigflieger sind in breiten Schichten der Bevölkerung verpönt. Ist das nicht ein optimales Szenario für eine Wiederbelebung der Schiene?

Ja, das ist eine großartige Gelegenheit – vor allem für Freizeitreisen oder Wochenendausflüge! Ungarn ist ein sehr gutes Beispiel. Die Zahl der Zugreisen von Budapest ins Umland hat massiv zugenommen; die Menschen aus der Stadt nehmen viel seltener das Auto für ihre Erholungstrips.

2020 war in Ungarn ein Rekordjahr beim Verkauf von Bahntickets, und ich glaube, dass die Zahlen 2023 noch beeindruckender ausfallen werden.

Das Problem ist also: Die Nachfrage ist grundsätzlich da, aber die Frage ist, ob die Bahngesellschaften in der Lage sind, diese Nachfrage auch zu bedienen. Ich bin mir da leider nicht so sicher. In Frankreich zum Beispiel gibt es in den Hochgeschwindigkeitszügen heute weniger Sitzplätze als noch vor zehn Jahren. Das muss sich wieder ändern.

Alicia Alamillos ist Journalistin mit Fokus auf internationale Nachrichten bei El Confidencial aus Madrid.

Neue alte Liebe

Das Bild eines Eisenbahnwaggons, der auf einem der zentralen Plätze von Kiew ausgestellt ist, ist in der Ukraine viral gegangen. Der Wagen gehörte zu einem Sonderzug, mit dem in den ersten Tagen der russischen Invasion 2022 regelmäßig Menschen aus der nahezu komplett eingekesselten Stadt Irpin evakuiert wurden.

Am 3. März wurde der Wagen von Bombensplittern getroffen und dabei beschädigt. Glücklicherweise gab es keine Verletzten und der Zug konnte seine Fahrt fortsetzen.

Vor dem Krieg galt die staatliche Eisenbahngesellschaft Ukrzaliznytsia vor allem als Problem: ineffizient, korrupt, unzuverlässig – und mit ihren knapp 400.000 Angestellten zu groß, um einfach abgewickelt zu werden. Mehrere Versuche, das Unternehmen zu reformieren und zu modernisieren, scheiterten.

In der Krise der vergangenen zwei Jahre erwies sich die Bahn jedoch als Lebensretter. Als zentralisierte staatliche Struktur ist sie inzwischen zuverlässig und vergleichsweise schnell bei Evakuierungen. Dank des zwar unrentablen, aber weit verzweigten Netzes war die Eisenbahn für viele Gemeinden in gefährdeten Gebieten manchmal der einzige Weg aus der Gefahrenzone heraus. In gewisser Weise ist die ukrainische Liebe zur Bahn neu entfacht.

Das Leben in der Ukraine ist heutzutage nicht einfach – aber zumindest haben wir keine Verspätungen.

Anton Semischenko ist Redakteur bei der englischsprachigen Version der Nachrichten-Website babel.ua aus Kiew.

Ausgebremste Abenteuerlust

Als ich meinen Koffer durch die Sommerhitze über die ungarisch-serbische Grenze schleppte, hatte ich noch meine Bedenken bezüglich der anstehenden Zugfahrt. Es war das Jahr 2004, und ich bereit für die 20-stündige Nachtzug-Tour von Subotica in Serbien ins montenegrinische Bar an der Adriaküste. Die Grenze mussten wir zu Fuß passieren – vorbei an einem endlos erscheinenden Autostau.

Die Wartezeit der Autofahrer blieb uns erspart; der Urlaub begann und blieb großartig. Seit diesem Tag im August 2004 bin ich Bahn-Fan. Ich reiste per Zug quer durch Europa, von Narvik bis Neapel. Es war sicherlich anders also noch in den 1990er-Jahren, als viele ungarische Studenten mit gefälschten Interrail-Tickets den sich für sie gerade öffnenden Westen erkundeten. Doch auch für mich war das Bahnfahren in den frühen 2000ern aufregend, effizient und billig – ein echtes Coming-of-Age-Abenteuer.

Im Laufe der folgenden Jahre reiste ich weiterhin oft und gerne, aber dank der neuen Billig-Airlines wurde ich zum „Frequent Flyer“ – und bin es bis heute. Fliegen ist schnell und billig, aber ich vermisse diese wunderschönen Zugfahrten, bei denen auch mal die Beine ausstrecken und entspannt die vorbeiziehenden Wälder beobachten kann.

Mein Problem ist: Ich kann nicht mit dem Zug reisen. Die Nachtzugverbindung von Budapest nach Venedig wurde eingestellt, im Gegensatz zu früher gibt es auch keine Züge von der rumänischen Hauptstadt in Richtung Montenegro mehr, und um nach Brüssel zu reisen – was ich arbeitsbedingt einmal pro Monat tue – müsste ich erst mit dem Auto nach Wien fahren, wo die Verbindung mit einmal Umstieg in Frankfurt startet.

Der Personentransport per Schiene ist in Europa unprofitabel geworden. Zwar mögen nationale Regierungen ihre jeweiligen Bahnunternehmen finanziell subventionieren, aber gerade internationale Verbindungen sind so teuer, dass die Leute lieber fliegen – und sei die Entfernung noch so kurz.

Nach mehr als zehn Jahren habe ich im vergangenen Mai erstmals wieder einen Nachtzug genommen. Es war wunderschön; zahlreiche Erinnerungen kamen zurück. Ich genoss die Fahrt im Liegewagen vom polnischen Chełm nach Kiew, wo die Bahn für die Menschen zu einem echten Lebensretter geworden ist (siehe oben). Braucht es erst einen Krieg, um wertzuschätzen, was wir einst hatten?

Viktoria Serdült ist Journalistin beim Nachrichtenportal hvg.hu aus Budapest. Sie befasst sich mit der ungarischen Innen- und Außenpolitik, der Europäischen Union sowie sozialpolitischen Themen.


Danke, dass Sie die 51. Ausgabe von European Focus gelesen haben.

Wir hoffen, Sie haben angesichts der vielen Bahnprobleme keine Kopfschmerzen, sondern vielleicht einige Denkanstöße bekommen.

Wie ist die Bahn-Situation in Ihrer Region? Wann sind Sie das letzte Mal mit dem Zug gefahren? War es gar eine grenzüberschreitende Reise? Was müsste getan werden, um das Bahnfahren wieder attraktiver zu machen?

Wie immer freuen wir uns über Ihr Feedback und Ihre Gedanken zum Thema. Schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an info@europeanfocus.eu.

Bis nächste Woche!

Siniša-Jakov Marusic

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

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