zum Hauptinhalt
Das Logo des neuen European-Focus-Newsletters

© Tagesspiegel / European Focus

European Focus #35: Autos, Fahrräder und der Kampf um die Straße

+++ Schritt für Schritt in Richtung Akzeptanz +++ Direkte Intervention +++ Die niederländische Rad-Revolution geht weiter +++ In Budapest ist Radfahren politisch +++ „Fahrräder sind in Kriegszeiten das einzig zuverlässige Transportmittel“+++

Hallo aus Rom,

selten gab es so viel Enthusiasmus in unserer Redaktionssitzung wie kürzlich, als einige in unserem Team vorschlugen, über das Thema Radfahren zu schreiben.

Für manche Leute ist das Radfahren in der Stadt ein weit entfernter Traum. „Mein“ Rom beispielsweise ist ein absoluter Albtraum für Radfahrer. Die grüne Wende, die auch in der italienischen Hauptstadt versprochen wird, scheint unerreichbar, wenn es für die Römer nicht einfacher und sicherer wird, sich auf zwei Rädern fortzubewegen.

Generell gilt meistens (noch): Verkehr ist Überlebenskampf. Nicht jeder hat den Heldenmut unseres Kollegen Holger, der sich in Tallinn jeden Tag in den Kampf wirft und seine Kinder per Lastenrad zum Kindergarten bringt.

In Budapest hat unsere Kollegin Viktoria mit 40 Jahren das Fahrrad für sich wiederentdeckt. Während der Pandemie mit ihren leergefegten Straßen konnte sie erleben, wie schön das Radlerleben in der Großstadt sein kann. Inzwischen herrscht aber wieder Alltag, und der Kampf Rad gegen Auto hat sogar die politische Bühne Ungarns erreicht.

Der Fahrrad-Enthusiasmus meiner Kollegen lässt auch mich wieder von radfreundlichen europäischen Städten träumen. Unsere Kollegin aus den Niederlanden erklärt, wie dieser Traum Realität werden kann.

Francesca De Benedetti, dieswöchige Chefredakteurin

Schritt für Schritt in Richtung Akzeptanz

In Tallinn schiebt sich der Feierabendverkehr durch die Straßen und für mich ist es Zeit, die Kinder vom Kindergarten abzuholen. Also steige ich auf mein Lastenrad, das meine Frau und ich im vergangenen Herbst gekauft haben.

Tallinn war noch nie eine fahrradfreundliche Stadt, aber das Konzept der dreirädrigen Lastenräder ist hier völlig neu. Als wir uns zum Kauf entschieden, gab es wahrscheinlich nicht mehr als ein Dutzend dieser Räder in der estnischen Hauptstadt.

Unser Heimweg führt uns durch Straßen, in denen Fahrrad- und Autofahrstreifen nicht physisch getrennt sind. Jeden Tag erlebe ich, wie Autofahrer uns auf der Straße schlichtweg nicht bemerken. Die Situationen variieren von Lastwagen und Lieferfahrzeugen, die auf dem Radweg anhalten, um Waren in Geschäften und Cafés abzuliefern, bis hin zu Autos, die im Stau zu weit rechts stehen, wo sie den Radfahrern Platz wegnehmen. Während kleine Fahrräder und Elektroroller einfach vorbeifahren können, müssen wir uns mit unserem breiteren Vehikel zwangsläufig in den Stau einreihen und warten. Oft schauen Autofahrer beim Abbiegen oder Aussteigen auch nicht in den Außenspiegel. Dann wird es wirklich brenzlig.

Auf den schmalen Radwegen Tallinns habe ich meine eigene Art passiv-aggressiven Verhaltens entwickelt. Die Autofahrer sollen schließlich lernen und sich daran gewöhnen, auch auf uns Radfahrer zu achten. Manchmal klopfe ich beim Vorbeifahren ans Fenster und werfe dem Fahrer einen langen, kühlen Blick zu. Ich spanne sogar die Kinder ein und bitte sie, den Fahrern zuzuwinken.

Dabei weiß ich natürlich, dass es nicht die Schuld der Autofahrer ist. Sie sind einfach nicht daran gewöhnt, die Straße mit Fahrzeugen wie dem unseren zu teilen. Das eigentliche Problem liegt bei der Gemeinde, die keine angemessenen Radwege anlegt. Ich sehe es nun als meine kleine Aufgabe, einen Anstoß für Veränderungen zu geben. Tag für Tag. Schritt für Schritt. Irgendwann werden die Autofahrer uns als natürlichen Teil des Verkehrs begreifen und akzeptieren.

Holger Roonemaa ist Leiter des Investigativ-Teams bei Delfi aus Tallinn.

Direkte Intervention

Das Video dauert keine 30 Sekunden, ging in Frankreich aber viral: Am vorvergangenen Sonntag (11. Juni) griff die grüne Parlamentsabgeordnete Sandrine Rousseau in Paris auf ihrem Weg zum Markt in ein Handgemenge zwischen einem Radfahrer und einem Taxifahrer ein.

Derartige handgreifliche Auseinandersetzungen scheinen sich in der französischen Hauptstadt zu häufen, seit die Zahl der Radfahrten zwischen 2019 und 2022 um unglaubliche 79 Prozent gestiegen ist. Auch die Anzahl der Radwege hat zugenommen, allerdings nicht in gleichem Maße. Viele Autofahrer haben immer noch Probleme, die Straße mit Radfahrern zu teilen. Für letztere kann das sogar lebensgefährlich werden. Die Zahl der in Unfälle verwickelten Radfahrer lag 2022 bei 1611, drei Jahre zuvor waren es „nur“ 676.

In ein paar Monaten dürfte es auf den Pariser Straßen zumindest etwas entspannter und weniger überfüllt werden. In einem lokalen Referendum Anfang April stimmten die Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt für ein Verbot von Miet-Scootern, die schon seit ihrer Einführung im Jahr 2018 immer wieder heftig kritisiert worden waren.

Léa Masseguin ist Journalistin in der Auslandsredaktion der französischen Zeitung Libération aus Paris.

Die niederländische Rad-Revolution geht weiter

Bekanntermaßen ist das Radfahren tief in der niederländischen Gesellschaft verwurzelt. Es gibt im Land mehr als 23,4 Millionen Fahrräder – bei einer Bevölkerung von 17,5 Millionen. Dies hat sich im Laufe der Jahrzehnte entwickelt und begann bereits in den 1890er Jahren, als das flache Land und die dicht besiedelten städtischen Gebiete das Fahrrad zum bequemsten und praktischsten Verkehrsmittel machten. Nach dem Zweiten Weltkrieg legten die Niederlande den Schwerpunkt auf echte Radverkehrsnetze, um Städte und ländliche Gebiete miteinander zu verbinden.

In den 1970er Jahren bildeten sich Fahrradlobbygruppen. Die Regierung reagierte mit weiteren umfangreichen Investitionen in die Fahrradinfrastruktur und konzentrierte sich auf den „Slow Traffic“. Städte und Gemeinden wurden mit separaten Fahrradspuren, fahrradfreundlichen Kreuzungen und verkehrsberuhigenden Maßnahmen gestaltet.

Auch heute werden in den großen niederländischen Städten immer mehr autofreie Zonen und Fußgängerzonen eingerichtet. In der Amsterdamer Innenstadt ist die Zufahrt für Autos inzwischen stark eingeschränkt, ohne dass es jemals größeren Widerstand dagegen gegeben hätte. Im Gegenteil; den Einheimischen gefällt‘s. Ende der 1990er-Jahre, als Autos die Oberhand in der Stadt zu gewinnen drohten, protestierten Tausende dagegen, den Vierrädern (noch) mehr Platz einzuräumen.

Heutzutage gibt es an allen Bahnhöfen große Fahrradparkplätze. In allen niederländischen Städten wurden außerdem Bike-Sharing-Programme eingeführt. Einzelpersonen können sich ganz einfach ein Fahrrad an einem Bahnhof ausleihen, es für die Fahrt zu ihrem Ziel benutzen und es an einem anderen Ort wieder abgeben. Das kostet etwa 4,45 Euro pro 24 Stunden – die in der Regel vom Arbeitgeber erstattet werden.

Niederländische Unternehmen bieten ihren Angestellten nämlich diverse Anreize, um mit dem Fahrrad (oder öffentlichen Verkehrsmitteln) zu pendeln. Einige haben steuerliche Vergünstigungen, Kostenerstattungen oder subventionierte Job-Tickets im Angebot. Sogar im Lehrplan der Schulen ist das Radfahren verankert, so dass Radeln und Verkehrssicherheit schon in jungen Jahren erlernt werden.

Die Niederländerinnen und Niederländer legen jedes Jahr mehr als 15 Milliarden Kilometer mit dem Fahrrad zurück. Gleichzeitig achten Stadtplaner besonders darauf, dass wichtige Einrichtungen (Supermärkte, Einkaufs- und Erholungsgebiete, Krankenhäuser, Schulen und Bahnhöfe) mit dem Fahrrad erreichbar sind.

Die Staatssekretärin für Infrastruktur, Vivianne Heijnen, ist aber der Ansicht, dass weitere Anstrengungen nötig sind. Schließlich finden die meisten Autofahrten immer noch über Distanzen von weniger als 7,5 Kilometern statt. Das ist auch mit dem Rad machbar.

Imane Rachidi ist freiberufliche Korrespondentin mit Fokus auf den Nahen Osten und Europa. Sie lebt in den Niederlanden.

In Budapest ist Radfahren politisch

„Es gibt in Budapest einen Krieg gegen Autos. Die Stadtverwaltung sieht jeden, der in ein Auto steigt, als Verbrecher an.“
Gergely Gulyás, Stabschef von Ministerpräsident Viktor Orbán

„Krieg gegen Autos“ könnte glatt ein Filmtitel sein. Budapests liberaler Bürgermeister Gergely Karácsony würde darin wohl die Hauptrolle spielen. Eigentlich war die ungarische Hauptstadt noch nie sonderlich fahrradfreundlich. Autos sind hier Statussymbole; Autofahrer wurden bisher stets bevorzugt behandelt. Als Karácsony 2019 gewählt wurde, waren seine Maßnahmen zur Umgestaltung der Stadt und des Stadtverkehrs daher höchst umstritten.

Die schärfsten Angriffe kamen jedoch nicht von den Bewohnern der Stadt, sondern von der rechtspopulistischen Regierung, die vor allem versuchte, dem politischen Feind in Person des liberalen Bürgermeisters das Leben schwer zu machen. Wenn Karácsony mit dem Rad zur Arbeit kam, wurde er von anderen Politikern kritisiert, er solle Auto fahren. Als er eine Fahrradstraße eröffnete oder das Parksystem der Stadt reformieren wollte, wurde er als „Autofeind“ beschimpft. Das gelte im Übrigen für jeden Radfahrer in der Stadt.

In Budapest lässt sich beobachten, wie rechte Politiker Fahrräder zu einer ihrer vielen Feindesgruppen erkoren haben. Die direkten Verkehrsauswirkungen in der Großstadt bekommen vor allem die Einwohner zu spüren.

Viktoria Serdült ist Journalistin beim Nachrichtenportal hvg.hu aus Budapest. Sie befasst sich mit der ungarischen Innen- und Außenpolitik, der Europäischen Union sowie sozialpolitischen Themen.

„Fahrräder sind in Kriegszeiten das einzig zuverlässige Transportmittel“

Kurz nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine starteten sechs Fahrrad-Lobbyorganisationen die internationale Kampagne #BikesForUkraine. Sie sammeln Spenden aus dem Ausland, um Fahrräder in die vom Krieg gebeutelten Gemeinden zu bringen. Maryna Bludsha von der Initiative erzählt im Interview mehr.

Warum braucht die Ukraine mehr Fahrräder?
In Kriegszeiten leiden das Straßennetz und das öffentliche Verkehrssystem. Straßen werden für Autos unpassierbar, Busse gehen in Flammen auf oder werden von Angreifern gestohlen, wie zum Beispiel in Cherson. Außerdem mangelt es oft an Treibstoff. So wird das Fahrrad zum einzigen wirklich zuverlässigen Transportmittel. Gleich nach Beginn der russischen Invasion haben wir zahlreiche Anfragen für Fahrräder erhalten. Die Menschen brauchen auch aktuell noch mehr, als wir zur Verfügung stellen können. Stand 11. Juni haben wir 1391 Fahrräder an Kommunen in der gesamten Ukraine übergeben – aber wir haben Anfragen für 2974 Räder.

Wir geben oft Fahrräder an Freiwillige, die Medikamente, Waren und Lebensmittel verteilen. Außerdem gibt es Ärzte, Sozialarbeiter und lokale Behörden, die Fahrräder benötigen. Die meisten von ihnen sind in den Kriegsgebieten, aber wir helfen auch anderen Gemeinden, in denen es zum Beispiel viele Binnenflüchtlinge gibt und die mehr Versorgungsleistungen erbringen müssen.

Woher kommen die Spenden?
Die meiste Hilfe kommt aus EU-Ländern. Dort sind 40 unserer 50 wichtigsten Unterstützer ansässig, insbesondere in Deutschland, den Niederlanden und Litauen. Menschen oder Organisationen helfen entweder mit Geld, damit wir in der Ukraine neue Fahrräder kaufen können, oder sie sammeln Fahrräder in ihrer Region. Oft reparieren sie die Räder auch, bevor sie sie in die Ukraine schicken. Unsere Berliner Partner von Changing Cities haben beispielsweise Fahrradreparatur-Treffen organisiert, um so die Ukraine zu unterstützen.

In den ersten Tagen des russischen Angriffskriegs haben Radfahrer eine Freiwilligen-Kolonne gestartet, mit der dringend benötigte Hilfsgüter geliefert wurden. Gibt es andere Beispiel dafür, wie Fahrräder im Krieg genutzt werden können?
In Kiew gibt es beispielsweise einen Fahrradkurierdienst namens CargoCult, der unter anderem Waren an bedürftige Menschen und Organisationen ausliefert. Gerade zu Beginn der Invasion staute sich der Autoverkehr an den Kontrollpunkten und auf den stadtauswärts führenden Straßen. Das Fahrrad erwies sich einfach als die schnellste Art der Fortbewegung.

Anton Semischenko ist Redakteur bei der englischsprachigen Version der Nachrichten-Website babel.ua aus Kiew.


Danke, dass Sie die 35. Ausgabe von European Focus gelesen haben.

Von meiner ungarischen Kollegin habe ich diese Woche erfahren, dass es einen paneuropäischen Radweg gibt, der unter anderem durch Budapest führt. Das wusste ich vorher nicht. Nachdem wir uns nun so viel mit Fahrrädern beschäftigt haben, ist bei mir jedenfalls die Lust gestiegen, eine Fahrradkarte zur Hand zu nehmen und mir die Welt wieder verstärkt mit dem Rad zu erschließen.

Bis nächste Woche!

Francesca De Benedetti

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

Melden Sie sich hier für den European Focus-Newsletter an.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false