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© Tagesspiegel / European Focus

European Focus #32: Wir müssen Haltung zeigen

+++ Den Mund aufmachen +++ Zahl der Woche: 30.000 +++ Spanien muss über seinen Rassismus sprechen +++ Rassistische Sprache in Estland weiterhin ein Problem +++ Spiel, Satz und Diskussion +++


Hallo aus Tallinn,

beim Fußball geht es vorrangig um den Sport an sich – aber auch um Politik. Das Gleiche gilt für andere weltweit beliebte Sportarten wie Tennis oder Basketball. Das muss nicht zwangsläufig so sein, aber sobald ein Fan von der Tribüne aus beispielsweise eine rassistische Bemerkung macht, hat der Rest der Sportwelt zu reagieren.

Nichts zu sagen oder zu tun, ist indes ebenfalls eine Reaktion und kann ein passiver politischer Akt sein. Das gilt auch für Aussagen, die eigentlich inhaltsleer sind, wie zum Beispiel „Wenn ich den Krieg stoppen könnte, würde ich es tun.“ Dies sagte die belarussische Tennisspielerin Aryna Sabalenka kürzlich. Bei den French Open wurde ihr von ihrer ukrainischen Gegnerin der Handschlag verweigert, unter anderem, weil sie den Aggressor im Krieg nicht deutlich angesprochen hatte.

Beim Lesen dieser Ausgabe wird Ihnen vermutlich etwas auffallen, was ich auch während unserer wöchentlichen Redaktionssitzung festgestellt habe: Man kann auch etwas unternehmen, ohne wirklich etwas unternehmen zu wollen. Dieser Ansatz führt zu halbgaren oder rein symbolischen Aktionen gegen Intoleranz und zu weiterhin anhaltendem Rassismus auf den Tribünen.

Ich hoffe, dass wir uns in Zukunft aktiv und entschlossen darum bemühen und uns Gedanken darüber machen, welche Entscheidungen für eine bessere Gesellschaft notwendig wären.

Herman Kelomees, dieswöchiger Chefredakteur

Den Mund aufmachen

Demonstranten von „Stand up to Racism“ vor dem Wandbild von Marcus Rashford, Stürmer von Manchester United, in Withington, Manchester.

© Abigail Russell

Rassismus mag im britischen Fußball nicht so weit verbreitet sein wie in Italien oder Spanien, doch das bedeutet nicht, dass rassistisch motivierte Angriffe gegen Fußballer komplett der Vergangenheit angehören. Die Beschimpfungen gegen die englischen Spieler Marcus Rashford, Jadon Sancho und Bukayo Saka nach der Niederlage des Nationalteams im Finale der Europameisterschaft 2020 waren nur die Spitze des Eisbergs. Kürzlich wurde der südkoreanische Stürmer von Tottenham Hotspur Son Heung-Min während eines Spiels gegen Crystal Palace von einem Palace-Fan mit einer rassistischen Geste bedacht.

Ein bemerkenswerter Unterschied zwischen England und Italien beziehungsweise Spanien besteht jedoch darin, dass beide Vereine die Beschimpfung umgehend verurteilten. Crystal Palace belegte den Fan mit einem Stadionverbot; die Polizei leitete eine entsprechende Ermittlung ein. Die Football Association und die Fußballvereine in England (und im Vereinigten Königreich im Allgemeinen) verurteilen und ahnden rassistische Übergriffe energisch und proaktiv, anders als es in vielen anderen europäischen Ländern der Fall ist.

Im Halbinale der Coppa Italia zwischen Inter Mailand und Juventus Turin im April wurde der Milan-Stürmer Romelu Lukaku beispielsweise von Juventus-Fans mit rassistischen Gesängen bedacht. Nach seinem Elfmetertor reagierte Lukako, indem er in Richtung der Fans den Zeigefinger auf die Lippen legte. Der Schiedsrichter schickte den belgischen Stürmer dafür mit Rot vom Platz (diese Entscheidung und Lukakos Spielsperre wurden allerdings inzwischen zurückgenommen). Auch aus Spanien gibt es üble Geschichten. Vinicius Jr. von Real Madrid wurde bei einem Spiel im vergangenen Monat von den Fans des Liga-Konkurrenten Valencia beschimpft und drohte, das Spielfeld zu verlassen.

Ein grundsätzliches Problem in den beiden südeuropäischen Ländern ist das Fehlen einer organisierten Ächtung und Bekämpfung von Rassismus im Sport, der immer noch als isoliertes Fehlverhalten einiger weniger unverbesserlicher Fans angesehen wird. Wichtig wäre in diesem Zusammenhang nicht nur die Umsetzung von Gesetzen gegen rassistische Diskriminierung durch die Behörden, sondern auch Aktionen in den sozialen Medien und in der Sportkultur, Bildung, die Sensibilisierung der Medien und eine veränderte öffentliche Wahrnehmung. Im Vereinigten Königreich geschieht dies durch die Clubs selbst sowie durch Organisationen wie Kick it Out oder Show Racism the Red Card, die Fehlverhalten dokumentieren und kritisieren.

Das bedeutet nicht, dass der Rassismus aus dem englischen Fußball verschwunden ist, aber auf der Insel kann man Aktionen und Maßnahmen beobachten, denen andere europäische Ligen durchaus folgen könnten.

Angelo Boccato ist freiberuflicher Journalist aus London. Er schreibt unter anderem für das Columbia Journalism Review, The Independent und Open Democracy.

Zahl der Woche: 30.000

Im vergangenen Sommer sahen 30.000 Kinder das Spiel der UEFA Nations League zwischen Ungarn und England in der Puskás Arena in Budapest. Eigentlich hätte die Partie ohne Zuschauer stattfinden sollen, um Ungarn für die rassistischen Gesänge seiner Fans zu bestrafen. Letztendlich erlaubte die UEFA jedoch Kindern unter 14 Jahren den Zutritt – von denen allerdings viele die englische Mannschaft ausbuhten, als deren Spieler sich vor dem Match hinknieten.

Viele Menschen in Ungarn betrachten diese Geste gegen Rassismus als kontrovers. Premierminister Viktor Orbán bezeichnete es sogar als „Provokation“, wenn Sportler zum antirassistischen Kniefall aufrufen oder aufgerufen werden.

Einige Monate später verärgerte Orbán hingegen selbst Rumänien und die Ukraine, als er bei einem Spiel zwischen Ungarn und Griechenland einen Schal trug, auf dem die Karte eines „Großungarns“ zu sehen war, einschließlich der Gebiete, die das ungarische Kaiserreich nach dem Ersten Weltkrieg verloren hatte. Der Premierminister äußerte dazu lediglich, Fußball habe nichts mit Politik zu tun. Scheinbar gilt das nicht, wenn er (oder gleich das gesamte Land) sich „provoziert“ fühlt.

Viktoria Serdült ist Journalistin beim Nachrichtenportal hvg.hu aus Budapest. Sie befasst sich mit der ungarischen Innen- und Außenpolitik, der Europäischen Union sowie sozialpolitischen Themen.

Spanien muss über seinen Rassismus sprechen

Ein antirassistischer Protest in Spanien.

© EFE

Wenn Sie nicht aus Spanien kommen, wissen Sie womöglich nicht, dass eine unserer nationalen Eigenarten darin besteht, uns und unser Land selbst zu hassen. Während den Franzosen ein gewisser „Chauvinismus“ zugeschrieben wird und die Briten immer noch dem Empire nachtrauern, geißeln sich die Spanier gerne selbst. Aktuell gibt es aber einen revisionistisch-nationalistischen Trend im Land, der dieses Selbstbild verändern will. In diesen Kontext fallen auch die rassistischen Beschimpfungen gegen den Spieler Vinicius Jr. von Real Madrid.

Eine kurze Rückschau: Am 21. Mai wurde Vinícius Jr. während eines La Liga-Spiels gegen Valencia von Valencia-Fans rassistisch beleidigt. Dieser Vorfall löste eine breitere Diskussion über Rassismus in der spanischen Liga aus. In Spanien gab es bereits zuvor rassistische Übergriffe, vor allem gegen Schwarze Fußballspieler. Der Fall Vinicius Jr. erreichte angesichts seiner eigenen und der Popularität von Real Madrid allerdings auch die ausländische Presse. Damit begannen aus spanischer Sicht die Probleme.

Hierzulande muss man über den eigenen Rassismus nachdenken und sprechen. Dieser konzentriert sich im Alltag weniger auf Schwarze Menschen (die lediglich 2,4 Prozent der Bevölkerung ausmachen), sondern auf andere Minderheiten wie arabische Menschen, Roma oder Indigene aus Lateinamerika. Dabei sehen sich die meisten Spanier als nicht rassistisch. Statistiken belegen jedoch etwas anderes.

Als wir aus der britischen Presse erfuhren, dass die spanische Bewerbung für die Fußballweltmeisterschaft (zusammen mit Portugal und der Ukraine) aufgrund dieses Vorfalls in Gefahr sein könnte, war die spanische Reaktion vor allem eins: Empörung. Uns wurde der Spiegel vorgehalten – und das gefiel uns überhaupt nicht. Diese Briten, die die amerikanischen Ureinwohner nahezu komplett ausgerottet hatten, die Tausende in Indien umgebracht hatten… die wollen uns jetzt sagen, wir seien rassistisch?

Der Fokus der Debatte lag vor allem darauf, von wem und wie Spanien „angegriffen“ wurde – und nicht darauf, warum wir eigentlich kritisiert wurden. Es mag verständlich sein, dass wir uns nicht von außen sagen lassen wollen, was wir zu tun haben. Dennoch müssen wir uns fragen: Wie viel Platz nimmt der Rassismus in der spanischen Gesellschaft inzwischen ein? Gut beantworten könnten diese Frage unsere Schwarzen, arabischen oder Roma-Communities. Vielleicht könnten wir Überraschendes über uns selbst lernen.

Alicia Alamillos ist Journalistin mit Fokus auf internationale Nachrichten bei El Confidencial aus Madrid.

Rassistische Sprache in Estland weiterhin ein Problem

„Die Eltern der E-Jugend-Basketballmannschaft sind besorgt: Die kürzlich bestellten Trikots sind noch nicht da“, schrieb kürzlich die estnische Satire-Website Lugejakiri. Zum Artikel gehört ein Bild der vermeintlichen Trikots – die berüchtigten weißen Roben des Ku-Klux-Klan.

Die Satire-Story war eine Reaktion auf einen tatsächlichen Vorfall, bei dem eine finnische Jugend-Basketballmannschaft nicht weiter spielen wollte, weil ihre estnischen Gegner ihre Schwarzen und asiatischen Spieler rassistisch beleidigt hatten.

Der Vorfall löste in beiden Ländern ein großes Medienecho und Debatten aus. In Estland fragte man sich: Wie kann man bereits jungen Kindern mehr Toleranz beibringen? In einem Land, in dem viele der älteren Generation das N-Wort weiterhin freimütig verwenden und in dem die Wörterbücher bis vor ein paar Jahren noch ausdrücklich betonten, dieses sei nicht abwertend, ist es gar nicht so einfach, Toleranz zu lehren.

Holger Roonemaa ist Leiter des Investigativ-Teams bei Delfi aus Tallinn.

Spiel, Satz und Diskussion

Die ukrainische Turnerin Daniela Batrona weigerte sich beim Weltturnier 2022 , das Podium mit den russischen Sportlerinnen zu teilen.

© twitter.com/FX_choreo

Am vergangenen Sonntag kam es bei den French Open zum Eklat. Das Publikum buhte die ukrainische Spielerin Marta Kostyuk aus, nachdem diese sich geweigert hatte, ihrer Gegnerin, Aryna Sabalenka aus Belarus, nach dem Spiel die Hand zu geben. Die Zuschauer auf den Tribünen empfanden dies als respektlos. Ob es dies wirklich ist, ist aber streitbar.

Sport galt und gilt als ein Symbol für Gemeinschaft, Fairness, Einhaltung von Regeln und Ehrgeiz, ungeachtet der Nationalität. Internationale Wettbewerbe werden als Fest gesehen, als ein Beleg dafür, dass die gesamte Menschheit eine große Familie ist. Besonders galt dies für Mannschaften aus den Ex-Sowjetstaaten, wo die Nationen eine gemeinsame Vergangenheit, eine Sprache, die alle verstehen, und einheitliche Trainingsmethoden hatten. Dies schuf eine meist warme und herzliche Atmosphäre.

Doch was geschieht, wenn eines dieser Länder versucht, ein anderes auszulöschen?

Seit die russischen Aggressionen gegen die Ukraine 2014 begannen, wurde in der Ukraine der Ansatz „Sport steht außerhalb der Politik“ populär. Das hat zwei Gründe: Erstens gab es immer noch ein Gefühl der Verbundenheit und Zusammengehörigkeit innerhalb der Sportgemeinschaft. Zweitens war im wohlhabenden Moskau vieles besser: Die Aussicht auf ein höheres Einkommen und eine bessere Karriere veranlasste viele ukrainische männliche wie weibliche Profis, Russland als Ort für ihr Training zu wählen. Allerdings wurde jeder sportliche Sieg der Ukraine über Russland fast wie ein militärischer Sieg betrachtet: Die Nation hatte triumphiert.

Seit im vergangenen Jahr Russland die Ukraine dann offen angriff, wurde klar, dass eine enge Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern im Sport (oder auch in der Kunst und praktisch allen anderen Feldern) für die meisten Ukrainer inzwischen ein No-Go ist.

Gleichzeitig haben die meisten internationalen Sportverbände weder russische noch belarussische Athleten ausgeschlossen. Ukrainische Sportlerinnen und Sportler treffen somit weiterhin auf russische Gegner. Ein Nicht-Antreten könnte für viele von ihnen das Ende der Karriere bedeuten. Nur gibt es keine Umarmungen, kein Lächeln und keinen Handschlag mehr.

Kostyuk erklärte, noch kurz vor dem Spiel habe sie die Nachrichten aus Kiew verfolgt, wo ihr Vater lebt. In der ukrainischen Hauptstadt hatte es den bisher schwersten Drohnenangriff gegeben. Ihre Gegnerin Aryna Sabalenka sagte ihrerseits nach dem Spiel, sie habe zunächst gedacht, die Buhrufe der Pariser Zuschauer seien an sie gerichtet. Womöglich hätte sie das nicht verwundert.

Anton Semischenko ist Redakteur bei der englischsprachigen Version der Nachrichten-Website babel.ua aus Kiew.

Danke, dass Sie die 32. Ausgabe von European Focus gelesen haben.

Nehmen wir die Worte von Aryna Sabalenka und probieren sie in einem anderen Kontext aus. Was, wenn Sie sagen: „Wenn ich Rassismus stoppen könnte, würde ich es tun?“ Meine Antwort darauf wäre: Warum gehen Sie eigentlich davon aus, dass Sie keinerlei Handlungsmöglichkeiten haben?

Ich hoffe, dass mehr Menschen die Scheu überwinden können, aktiv zu werden und sich einzusetzen – sei es durch Spenden, das Nutzen der eigenen Reichweite on- und offline, oder durch das Aufziehen einer offeneren nächsten Generation. Ich bin zuversichtlich, dass wir so ein toleranteres Europa schaffen können.

Bis nächste Woche!

Herman Kelomees

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

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