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© Tagesspiegel / European Focus

European Focus #33: Die Justiz, die Politik und die Intrige

+++ Vier minus für viele Richter +++ Zahl der Woche: 1.643 +++ Cash für Reformen in Ungarn +++ Letzte Generation: Mischt sich Berlins Politik in die Justiz ein +++ Ein Wolf im Richter-Pelz +++

Hallo aus Prag,

Ein Wolf im Richter-Pelz? Eine Oberste Verfassungsrichterin, die eine „Entdeckung“ des Chefs der Regierungspartei ist? Ein hohes Justiz-Gremium, das seit über viereinhalb Jahren auf Interimsbasis arbeitet? In vielen europäischen Staaten gibt es Konflikte zwischen Politik und Rechtswesen.

Erst am vergangenen Montag hat der Europäische Gerichtshof weitere Teile der polnischen Justizreform gekippt. Er entschied, dass die Veröffentlichung von Online-Erklärungen über die Mitgliedschaft von Richtern in Stiftungen oder politischen Parteien deren Datenschutzrechte verletzen.

Die Probleme in Polen, Ungarn und auch der Ukraine sind weithin bekannt. Doch es wird Sie vielleicht überraschen zu lesen, dass in Spanien die Behörde, die das Justizsystem des gesamten Landes beaufsichtigt, seit mehr als vier Jahren auf Übergangsbasis arbeitet. Der Grund dafür ist ein Streit zwischen den beiden größten politischen Parteien. Auch in Deutschland gibt es Überlappungen zwischen politischer und rechtlicher Kompetenz.

Es mag zunächst etwas dröge klingen, über Rechtsstaatlichkeit und Justiz zu sprechen, aber ich bin sicher, dass Sie in dieser Ausgabe von European Focus viele fesselnde Beiträge finden werden. Denn bei den Problemen zeigen sich Parallelen über Grenzen hinweg.

Gyula Csák, dieswöchiger Chefredakteur


Vier minus für viele Richter

Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, die Vorsitzende des Verfassungsgerichts Julia Przyłębska, der Vorsitzender der PiS Jarosław Kaczyński.
Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, die Vorsitzende des Verfassungsgerichts Julia Przyłębska, der Vorsitzender der PiS Jarosław Kaczyński.

© Foto: Sławomir Kamiński / Agencja Wyborcza.pl

In Polen gibt es ein Problem: Die Gerichte werden mit offenbar inkompetenten Richterinnen und Richtern besetzt. Dies ist Teil der „Reformen“, die die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) durchführt, seit sie bei den Wahlen 2015 die absolute Mehrheit gewann.

Das wohl bekannteste Gesicht dieser Entwicklung ist Julia Przyłębska, die Vorsitzende des polnischen Verfassungsgerichts. Jarosław Kaczyński, der Vorsitzende der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), nannte sie „seine gesellige Entdeckung“. Er hatte sie oft privat getroffen und lobte ihre Kochkünste.

Przyłębska wurde 1987 Richterin. Sie bestand das Staatsexamen damals mit „knapp ausreichend“, der niedrigsten möglichen Note für die Zulassung zum Richterberuf.

Es gibt viele ähnliche Beispiele. Der Verband unabhängiger Richter in Polen (Iustitia) hat einen Bericht veröffentlicht, aus dem hervorgeht, dass der Justizminister in den ersten Jahren der „Reform“ 160 Gerichtsvorsitzende durch von ihm ernannte Personen ersetzt hat. Vielen der Neulinge fehlten dabei allerdings die notwendigen Qualifikationen. Infolgedessen hat sich die Wartezeit für die Beilegung von Fällen an polnischen Gerichten deutlich verlängert.

Der Zweck solcher Aktionen ist es, der Regierungspartei die Loyalität der Richterschaft zu sichern. Das Verfassungsgericht unter der Leitung von Przyłębska hat mehrere Urteile entsprechend dem Willen der Regierungsstellen gefällt.

Ein bekanntes Beispiel dafür gab es 2020, als das Verfassungsgericht entschied, dass Schwangerschaftsabbrüche, die zuvor bei Fehlbildungen des Fötus erlaubt waren, verfassungswidrig seien. Dies führte damals zu massiven Protesten.

Doch auch aktuell ist der Widerstand gegen von oben verordnete Änderungen in den polnischen Gerichten groß. Die von Minister Ziobro nominierten Richter werden vom „alten“ Teil der Justiz regelrecht filetiert. Die Neulinge erscheinen in der Öffentlichkeit alles andere als souverän und qualifiziert für ihre Aufgaben.

Zudem ist die Arbeit des Verfassungsgerichts blockiert. Grund dafür ist, dass einige Mitglieder des Gerichts den Rücktritt von Przyłębska fordern und daran erinnern, dass ihre Amtszeit bereits abgelaufen ist. Deswegen werden die Gerichtssitzungen nicht abgehalten. So ist das Verfassungsgericht unter Przyłębskas Führung de facto zu einer funktionsunfähigen Institution geworden.

Damit ist die EU die letzte Hüterin der Unabhängigkeit der polnischen Gerichte. Sie sollte in ihren Bemühungen, die zentralen Grundsätze der EU-27 zu verteidigen, nicht nachlassen.

Michał Kokot arbeitet im Auslandsressort der Gazeta Wyborcza und befasst sich dort mit Politik und Gesellschaft Mitteleuropas.


Zahl der Woche: 1.643

Zahl der Woche: 1,643.
Zahl der Woche: 1,643.

© GIF: Karolina Uskakovych.

Kann eine ganze Justizinstanz in „Geiselhaft“ genommen werden? In jedem Fall wirft die spanische Regierung der Opposition vor, sie behindere das ordnungsgemäße Funktionieren des sogenannten Allgemeinen Rats der Justiz und versuche, diesen zu kapern.

Das Gremium, das das Justizwesen des Landes überwacht, arbeitet seit mehr als viereinhalb Jahren – oder 1.643 Tagen – auf Interimsbasis. Grund dafür ist, dass sich das Parlament nicht auf die Wahl der neuen Ratsmitglieder einigen kann.

Für die Neuwahl ist eine Dreifünftel-Mehrheit in beiden Häusern des spanischen Parlaments erforderlich. Das bedeutet, dass sich die beiden stärksten Parteien, die regierenden Sozialdemokraten (PSOE) und die Konservativen (PP), auf 20 Mitglieder verständigen müssen. Bis das tatsächlich geschieht, bleiben die (meisten) Mitglieder, die vor bereits neun Jahren ernannt wurden, auf ihren Posten.

Dass es in dieser Angelegenheit eine Einigung noch vor den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juli gibt, ist eher unwahrscheinlich.

Alicia Alamillos ist Journalistin mit Fokus auf internationale Nachrichten bei El Confidencial aus Madrid.


Cash für Reformen in Ungarn

Geld für die Justizreform, aber Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit bleiben bestehen.
Geld für die Justizreform, aber Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit bleiben bestehen.

© Foto: Zsolt Reviczky/HVG

Ungarn leidet unter einem geringen Wirtschaftswachstum und der höchsten Inflation in der Europäischen Union. Das Land lechzt daher nach EU-Geldern.

Diese Gelder sind allerdings eingefroren. In Brüssel ist man der Meinung, Ungarns Regierung tue nicht genug, um die Korruption im Land einzudämmen sowie die Rechtsstaatlichkeit zu garantieren. Als das ungarische Parlament dann dafür stimmte, neue Justizreformen ab 1. Juni umzusetzen, war die Erleichterung landesweit spürbar.

Kein Wunder, denn das Gesetzespaket war die Voraussetzung für die Freigabe von 13,2 Milliarden Euro, die Budapest zustehen.

Politischer Druck auf die unabhängige Justiz in Ungarn ist seit langem ein national und international debattiertes Thema. Ein hochrangiger Budapester Richter beklagte, dass er und seine Kollegen „seit Jahren Zeugen externer und interner Beeinflussungsversuche“ seien.

Im Rechtsstaatlichkeitsbericht der Europäischen Kommission wird auf diverse Probleme hingewiesen, darunter die Herausforderungen, mit denen der Nationale Justizrat (ein Selbstverwaltungsorgan der Richter) zu kämpfen hat, oder die Regeln für die Wahl des Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs. Kritisiert wird ebenfalls die mögliche Bevorzugung von gewissen Richterinnen und Richtern bei Stellenbesetzungen, Beförderungen, der Zuweisung von Fällen und Boni.

Eine Zeit lang schien es, als würde nicht einmal die Europäische Kommission dem Treiben genug Aufmerksamkeit schenken. Als die EU-Exekutive ihr Konditionalitätsverfahren gegen Ungarn wegen Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit einleitete, sprach sie die Frage der richterlichen Unabhängigkeit noch gar nicht an.

Erst auf Druck des Europäischen Parlaments machte sie die Unabhängigkeit der Justiz zur Bedingung für den Zugang Ungarns zu insgesamt 22 Milliarden Euro aus dem EU-Kohäsionsfonds und zu weiteren 5,8 Milliarden Euro aus dem Konjunkturprogramm (Recovery Fund).

Letztendlich hatte die ungarische Regierung keine andere Wahl, als auf die Bedenken Brüssels einzugehen: Sie zog das EU-Geld der Macht über die Gerichte vor.

Einige Fachleute und NGOs warnen jedoch bereits, dass diese Ergebnisse nicht überbewertet werden sollten. Die jüngsten Justizreformen in Ungarn gehen die wichtigsten Aspekte, die der ungarischen Regierung vorgeworfen werden, nicht an, darunter insbesondere Korruption, Interessenkonflikte und korrupte öffentliche Auftragsvergaben.

Wenn sich daran nichts ändert, wird der bisherige Charakter der Orbán-Regierung beibehalten, und die Justizreform könnte sich schnell als Feigenblatt entpuppen, mit dem die wahren Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn verschleiert werden.

Viktoria Serdült ist Journalistin beim Nachrichtenportal hvg.hu aus Budapest. Sie befasst sich mit der ungarischen Innen- und Außenpolitik, der Europäischen Union sowie sozialpolitischen Themen.


Letzte Generation: Mischt sich Berlins Politik in die Justiz ein?

Demonstranten blockieren eine Straße in München.
Demonstranten blockieren eine Straße in München.

© Foto: Letzte Generation München.

„[…] und dazu gehört eben auch die Frage, ob es sich bei der Letzten Generation um eine kriminelle Vereinigung handelt.“

Seit April versuchen Klimaaktivisten der „Letzten Generation“ immer wieder, den Autoverkehr in Berlin zum Stillstand zu bringen, indem sie sich auf Kreuzungen festkleben. Das hat zu hitzigen Debatten geführt (und viel Hass der Autofahrer auf den Umweltprotest hervorgerufen).

Vor einigen Wochen wies die Justizsenatorin Berlins, Felor Badenberg, ihre Behörde an, zu prüfen, ob die Klimaschutz-Truppe die Kriterien für die Bildung einer kriminellen Vereinigung erfüllt. Ihre Ankündigung sorgte für Aufsehen in der deutschen Öffentlichkeit, zumal die Staatsanwaltschaft des Bundeslandes Berlin bereits erklärt hatte, dass sie die „Letzte Generation“ nicht als kriminelle Vereinigung ansieht.

Will die Justizsenatorin den Staatsanwälten etwa eine politische Leitlinie aufzwingen? Tatsächlich könnte sie dies wohl, wenn sie wollte: In Deutschland sind Staatsanwaltschaften schließlich an Weisungen der Justizministerien gebunden – auch wenn es nicht üblich ist, von diesem Instrument Gebrauch zu machen.

Teresa Roelcke ist Journalistin beim Tagesspiegel aus Berlin.


Ein Wolf im Richter-Pelz

Die Präsidenten wechseln, Vovk lächelt weiter.
Die Präsidenten wechseln, Vovk lächelt weiter.

© Foto: Babel.ua

Dem ukrainischen Richter Pavlo Vovk wird so einiges vorgeworfen: Unterstützung korrupter Beamter bei der Vermeidung von Strafen, das „Begraben“ von Gesetzen, ein angesichts seines bescheidenen Staatsgehalts unerklärlich luxuriöser Lebensstil.

2010 leitete Vovk im Alter von nur 31 Jahren bereits das Bezirksverwaltungsgericht von Kiew. Das ist eine Einrichtung, die für die Beilegung von Streitigkeiten mit staatlichen Beamten und Einrichtungen zuständig ist. Das Gericht entschied beispielsweise, ob ein vom ukrainischen Parlament verabschiedetes Gesetz in die Praxis umgesetzt werden kann oder ob das Verbot einer von Russland finanzierten politischen Partei rechtmäßig war.

Vovk konnte auf derartige Fälle Einfluss nehmen und hat – zumindest nach Ansicht der Staatsanwaltschaft – seine Position missbraucht und im eigenen Interesse ausgenutzt.

Die ukrainischen Anti-Korruptionsbehörden haben diverse abgehörte Aufnahmen von Vovks Gesprächen veröffentlicht. In diesen sagt er unter anderem: „Ich stehe für absolute Gesetzlosigkeit im ukrainischen Gerichtssystem ein.“ Außerdem deutete er an, er könne stets nach den Wünschen einzelner Spitzenpolitiker handeln, wenn ihm danach sei.

Vovk dementiert die Echtheit dieser Aufnahmen nicht. Allerdings seien die Anschuldigungen eher ein Racheakt von außen. Die ukrainischen Antikorruptionsbehörden versuchten seiner Ansicht nach, sein Gericht zu beeinflussen, weil viele der von ihnen eingeleiteten Fälle dort nach wie vor anhängig sind. Auf die Frage, warum man sich an ihm rächen wollte, sagte er lediglich: „Weil ich stark bin und mein Gericht unabhängig ist.“

„Vovk“ bedeutet auf Ukrainisch „Wolf“. Da der Wolf ein beliebtes Subjekt ukrainischer Sprichwörter ist, war dies ein Segen für die Überschriften-Schreiber. Es erschienen Artikel mit den Titeln „Leben nach des Wolfes Regeln“ oder „Das Recht des Wolfes“. Darin schwang eine Mischung aus Bewunderung und Verachtung mit. Vovks Gericht wurde als „Justiz-Laden“ bezeichnet, in dem sich die richtigen Menschen frei bedienen könnten. Jahrelang galt er als genauso berüchtigt wie unberührbar.

Trotz aller Proteste, Verdächtigungen und rechtlichen Bedenken gegen ihn behielt Vovk sein Amt bis Ende 2022. Mehrere Präsidenten – Viktor Janukowitsch, Petro Poroschenko, Wolodymyr Selenskyj – beantworteten Fragen über ihn und sein Gericht mit Unbestimmtheit und einem Mangel an Entschlossenheit.

Offenbar erschien Vovk als zu einflussreich und zu nützlich. Am 9. Dezember vergangenen Jahres verhängten die USA jedoch Sanktionen gegen Vovk, „weil er Bestechungsgelder als Gegenleistung für die Einmischung in gerichtliche und andere öffentliche Prozesse verlangt hatte“. Daraufhin gab der vom Krieg gebeutelte und vom Westen abhängige ukrainische Staat Vovk endlich auf – indem er das Gericht auflöste.

Nun besteht Vovks Arbeitstag meist darin, Anhörungen in Fällen gegen ihn beizuwohnen. Diese Fälle stecken aber im schwerfälligen Justizsystem der Ukraine ebenfalls fest.

Anton Semischenko ist Redakteur bei der englischsprachigen Version der Nachrichten-Website babel.ua aus Kiew.


Danke, dass Sie die 33. Ausgabe von European Focus gelesen haben.

Bestechung, „Geiselhaft“, Intrigen... Das alles klingt wie der Stoff für einen Thriller – und in gewisser Weise ist es das auch.

Im Gegensatz zu Inflation oder Wohnungsnot sind Justiz und Rechtsstaatlichkeit für die meisten von uns kein Thema, mit dem wir uns täglich beschäftigen. Das bedeutet aber nicht, dass sie für unseren Lebensstandard und unseren Alltag unwichtig wären. Daran sollten wir uns hin und wieder erinnern.

Bis nächste Woche! 

Gyula Csák

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

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