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© Tagesspiegel / European Focus

European Focus #26: Europa und der Regenbogen

+++ Kann man mit Homophobie immer noch Wahlen gewinnen? +++ Zahl der Woche: 4 +++ Wie der Krieg LGBTQ-Rechte in der Ukraine voranbringt +++ Kein Regenbogen im orbánisierten Italien +++ Der ganz normale Hass in Ungarn +++

Hallo aus Warschau,

vor einigen Tagen war der International Transgender Day of Visibility, mit dem auf die Diskriminierung von Transgender-Menschen weltweit aufmerksam gemacht werden soll.

Wir haben uns daher dazu entschieden, uns diese Woche mit der Lage der LGBTQ-Communities in verschiedenen europäischen Ländern auseinanderzusetzen.

Das vorsichtig optimistische Fazit: die Rechte dieser Menschen werden in Europa zunehmend respektiert.

Der absolute Vorreiter ist Spanien. Um das Geschlecht im spanischen Personalausweis zu ändern, muss man heute lediglich zum Amt gehen und einige Monate warten.

Selbst in Polen – wo Politiker nach wie vor mit verbalen Angriffen auf LGBTQ versuchen, die Gesellschaft zu spalten – spricht sich die Mehrheit der Bevölkerung inzwischen für mehr Rechte für sexuelle Minderheiten aus.

Die schnellsten Veränderungen finden aktuell wohl in der Ukraine statt, wo der Krieg die Menschen zu einer pragmatisch-entspannteren Haltung veranlasst. Schwule und Lesben kämpfen Seite an Seite mit Heterosexuellen an der Front.

Dort bekommen sie das Gefühl, dass sie genauso vollwertige Soldatinnen und Soldaten sind wie ihre heterosexuellen Kameraden.

Und das sind sie natürlich auch – schließlich geht es „nur“ um Liebe.

Michał Kokot, dieswöchiger Chefredakteur

Kann man mit Homophobie immer noch Wahlen gewinnen?

„Wir sind Menschen, keine Ideologie.“ Protest gegen Präsident Andrzej Duda im Jahr 2020 in Lublin.

© Foto: Agencja Wyborcza

„Die Gender-Ideologie und die LGBT-Bewegung bedrohen die Identität, die Nation, ihren Fortbestand und den polnischen Staat,“ so Jarosław Kaczyński, Vorsitzender von Polens rechtspopulistischer Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), im Jahr 2019.

Im Juni 2020, während des Wahlkampfs für die Präsidentschaftswahlen, äußerte sich auch der amtierende Präsident Andrzej Duda (ebenfalls PiS) zu diesem Thema: „Sie versuchen uns zu erzählen, dass [LGBTQ] Menschen sind, aber es ist reine Ideologie...“

Dies sind nur zwei Beispiele für homophobe Äußerungen einflussreicher polnischer Politiker im Parlaments- (2019) und Präsidentschaftswahlkampf (2020). Beide Wahlen wurden von der PiS beziehungsweise von Duda gewonnen.

Dennoch kam es zu Gegenreaktionen. Es folgten massenhafte Coming-outs von jungen Menschen im ganzen Land, nicht nur in den liberalen Großstädten. Viele PiS-Wählerinnen und -Wähler erkannten, dass diese Entwicklung nicht mit einer vermeintlichen „LGBT-Ideologie“ zusammenhing, sondern schlichtweg damit, dass ihre schwulen, lesbischen und transsexuellen Kinder oder Enkelkinder ihre sexuelle Identität entdeckten und offen zeigten.

Paradoxerweise wurden die ebenso zynischen wie homophoben Kampagnen der PiS somit ein Weckruf für viele Polinnen und Polen. Im Jahr 2022 verzeichnete Polen eine bisher beispiellose Unterstützung für eine gleichgestellte zivilrechtliche Lebenspartnerschaft gleichgeschlechtlicher Paare – 64 Prozent sprechen sich inzwischen dafür aus.

Es scheint, als hätte die polnische Gesellschaft bei diesem Thema einen gewissen Konsens gefunden; aktuell fehlt allerdings noch der politische Wille zur Veränderung. Die Regierungspartei PiS wird sich weigern, jegliche Gesetze zur Unterstützung oder Gleichstellung von LGBTQ-Personen zu verabschieden.

Doch selbst diesen Politikern ist der gesellschaftliche Wandel offensichtlich nicht entgangen. Das Thema „LGBT-Ideologie“ ist jedenfalls aus ihrem strategischen Arsenal und ihren Debatten verschwunden.

Im Herbst stehen Parlamentswahlen in Polen an. Die beiden größten Oppositionsparteien – Bürgerplattform und Polska 2050 – haben im Falle eines Sieges die Einführung von der heterosexuellen Ehe gleichgestellten Lebenspartnerschaften angekündigt.

Die dritte Partei – die Neue Linke (Nowa Lewica) – spricht sich für gleichgeschlechtliche Ehen aus. Von dieser Wahl hängt es ab, ob der polnische Staat endlich anfängt, die Menschenrechte zu respektieren – oder ob Polen weiterhin Putins Russland ähneln will.

Wojciech Karpieszuk ist Journalist bei der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza aus Warschau. Er beschäftigt sich hauptsächlich mit sozialpolitischen und LGBTQ-Themen – und wartet auf die Gleichstellung der Ehe(n) in Polen.

Zahl der Woche: 4

Zahl der Woche

© GIF: Karolina Uskakovych

Seit diesem März dauert es nur noch vier Monate, um in Spanien legal sein Geschlecht zu ändern. Das Parlament hat ein sogenanntes LGTBQ-Schutzgesetz verabschiedet, das Spanien zu einem der progressivsten Länder in dieser Hinsicht macht – zumindest auf dem Papier.

In der Vergangenheit brauchte eine transsexuelle Person eine ärztliche Diagnose der Geschlechtsdysphorie sowie eine zweijährige Hormontherapie. Nun muss lediglich beim Standesamt beantragt werden, dass Geschlecht zu ändern.

Drei Monate später spricht man erneut vor und muss dann noch einen weiteren Monat warten. Das erklärte Ziel der neuen Regelung: die „Pathologisierung“ von Trans-Menschen soll gestoppt werden.

Alicia Alamillos ist Journalistin mit Fokus auf internationale Nachrichten bei El Confidencial aus Madrid.

Wie der Krieg LGBTQ-Rechte in der Ukraine voranbringt

Petro Scherucha nahe der Front.

© Foto: privat

Petro Scherucha ist zurückhaltend und spricht leise. Er ist nicht die Art von Mann, die man normalerweise in einer Militäruniform erwarten würde.

Bis vor einem Jahr verbrachte er seine Freizeit in einem Buchclub, mit Schachspielen und vor allem mit Musik. Er studierte an der Musikhochschule in Lviv. Heute ist er Freiwilliger in der ukrainischen Armee.

Petro hat damit einen ähnlichen Wandel in seinem Leben vollzogen wie tausende andere Ukrainer, doch ein Detail macht seine Geschichte besonders: er ist homosexuell. Das bringt im Kriegsfall Komplikationen mit sich. Diese sind jedoch nicht gesellschaftlicher Natur.

In zahlreichen Interviews haben schwule Soldaten und lesbische Soldatinnen betont, sie würden weder von ihren Kameraden noch von ihren Vorgesetzten diskriminiert. Im Gegenteil: Wenn man sehe, dass Menschen aus anderen Gesellschaftsschichten dieselben Werte wie man selbst verteidigen, dieselben Risiken wie man selbst eingehen und dass sie genauso leiden wie man selbst, dann schaffe das Loyalität.

Die Probleme beginnen erst, wenn Homosexuelle vom militärischen auf das rechtliche Schlachtfeld wechseln.

In der Ukraine können nur direkte Familienangehörige eine Person auf der Intensivstation besuchen, die sterblichen Überreste in einer Leichenhalle identifizieren oder der gesetzliche Vertreter des Verstorbenen sein. Ein schwules Paar kann somit 30 Jahre lang zusammenleben – rein rechtlich sind sie jedoch Fremde. Petro möchte das ändern. Er setzt sich für ein neues Gesetz über gleichgestellte Lebenspartnerschaften für gleichgeschlechtliche Paare ein. Dies wäre eine wahrlich bedeutende Alternative zu dem, was in seinem Land traditionell als „Familie“ gilt.

„Ich sitze gerade auf einem Sack Zucker in einem Haus, das unter Beschuss steht,“ schreibt Petro in einem Beitrag, in dem er um Unterstützung für eine Petition zur Verabschiedung eines entsprechenden Gleichstellungsgesetzes bittet.

„Mein Privatleben ist auf Pause, aber ich denke trotzdem, dass jetzt der richtige Zeitpunkt für ein solches Gesetz ist. Ich kämpfe für eine Ukraine, in der es keine Diskriminierung gibt und in der jeder seine Beziehungen und Partnerschaften leben kann.“

Innerhalb von fünf Tagen wurden 14.000 Unterschriften für die Petition gesammelt. Das Parlament wird voraussichtlich im Frühjahr über einen entsprechenden Gesetzesentwurf beraten. Die Entwicklung zeigt: das Recht in der Ukraine hinkt den Einstellungen und Alltagserfahrungen der Menschen noch hinterher. Doch die Gesellschaft verändert sich und treibt den Wandel voran.

Anton Semischenko ist Redakteur bei der englischsprachigen Version der Nachrichten-Website babel.ua aus Kiew.

Kein Regenbogen im orbánisierten Italien

Giorgia Melonis Regierung hat den Bürgermeister von Mailand, Beppe Sala, zum Rückzieher gezwungen.

© Unsplash/Alexander Grey

Nach ihren Angriffen auf die Medienfreiheit hat sich die Regierung von Giorgia Meloni nun dem Thema Regenbogenfamilien zugewendet – und gleichgeschlechtliche Elternschaft abgelehnt.

So zwang das italienische Innenministerium den progressiven Mailänder Bürgermeister Beppe Sala, bei der Anerkennung von Regenbogenfamilien einen Rückzieher zu machen. Er wurde angewiesen, Kinder gleichgeschlechtlicher Eltern nicht mehr im Einwohnermeldeamt registrieren zu lassen.

Während einer Pressekonferenz in Straßburg wies Sala auf diesen Vorgang hin und kritisierte ihn. Zahlreiche italienische Bürgermeisterinnen und Bürgermeister protestierten gegen die Entscheidung der Regierung in Rom. Man sehe dies als einen weiteren Schritt zur Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit in Italien, erklärte das Europäische Parlament vergangene Woche.

Im Dezember 2021 urteilte der EU-Gerichtshof, dass einem Kind mit gleichgeschlechtlichen Eltern die gleichen Rechte in allen Mitgliedstaaten eingeräumt werden müssen. Darin heißt es unmissverständlich: „Der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit das Kind besitzt, ist verpflichtet, ihm einen Personalausweis oder Reisepass auszustellen.“

Ebenso müsse dem Kind ermöglicht werden, „mit jeder dieser beiden Personen [der Eltern] sein Recht auszuüben, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten“. Das Urteil des EU-Gerichtshofs gab den Anstoß für die EU, die Elternschaft neu zu regeln: Laut dem Kommissionsvorschlag soll „Elternschaft, die in einem Mitgliedsstaat eingetragen ist, auch in allen anderen Mitgliedsstaaten anerkannt werden.“

Damit dies in der Praxis umgesetzt werden kann, braucht es aber einstimmige Zustimmung der Mitgliedstaaten. Meloni hingegen scheint eine „Orbánisierung“ Italiens zu präferieren.

Man erkennt ein Muster: Vor einem Jahr erklärte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán nach seiner Wiederwahl, dass „Gender das Hauptproblem in Europa“ sei. Seine Anti-LGBTQ-Gesetze sind berüchtigt. Die Inspiration für seine Hasstiraden hat er allerdings von der polnischen Partei Recht und Gerechtigkeit: schon der Präsidentschaftswahlkampf von Andrzej Duda im Jahr 2020 (siehe oben) war von Anti-LGBTQ-Rhetorik geprägt. Nach Melonis Übernahme der Macht in Italien geht diese nun ähnlich vor. Mit ihrer Propaganda versucht sie vor allem, ihre anderen politischen Fehler und Misserfolge zu überdecken.

Francesca De Benedetti berichtet für die Zeitung Domani aus Rom über europäische Politik und Auslandsnachrichten.

Der ganz normale Hass in Ungarn

Anti-LGBTQ-Propaganda wird weitergehen, wenn die Gesellschaft schweigt, sagt András Léderer.

© Foto: Ivola Bazánth

András Léderer, Leiter der Abteilung Advocacy beim Ungarischen Helsinki-Komitee, spricht im Interview über die jüngsten Attacken auf die LGBTQ-Community in Ungarn.

„Gute Neuigkeiten! Das Parlament von Uganda hat ein Anti-LGBTQ-Gesetz erlassen. Tunten können dort hingerichtet werden,“ freute sich der bekannte regierungsfreundliche Journalist András Bencsik kürzlich in einer TV-Show. Derartig heftige homophobe Propaganda hat in Ungarn eine gewisse Tradition. Wie hat sich das in den vergangenen Jahren entwickelt?

Bencsiks Äußerungen sind nur die jüngsten in einer Reihe von choreografierten verbalen und rechtlichen Angriffen gegen die LGBTQ-Gemeinschaft. Alles begann mit einer Drohung von Ministerpräsident Viktor Orbán am internationalen Tag gegen Homophobie im Jahr 2015. Damals sprach er von „uns Ungarn“ und „den anderen, die einen anderen Lebensstil haben“.

In den folgenden sieben Jahren kam es zu einem regelrechten Krieg gegen die Gender Studies, zu Verfassungsänderungen, mit denen diskriminierende Ansichten in wichtige Gesetze aufgenommen wurden, zum Verbot der rechtlichen Geschlechtsanerkennung und des Rechts gleichgeschlechtlicher Paare, Kinder zu adoptieren, zur Verquickung von Pädophilie und LGBTQ, zum Verbot der Besprechung und Darstellung von „LGBTQ-Inhalten“ für Jugendliche unter 18 Jahren und zur Organisation eines nationalen Referendums über die Frage, ob die Wählerinnen und Wähler Geschlechtsumwandlungen für Minderjährige befürworten.

Was will Bencsik mit seinem Statement bewirken?

Bencsik testet aus, wie weit die staatliche Propagandamaschinerie bei ihren Angriffen auf LGBTQ-Rechte gehen kann.

Was sind die Auswirkungen solcher Aussagen? 

Ob es ihm gelingt, die Grenzen dessen, was als Propaganda noch akzeptabel ist, auszuweiten, hängt zum Teil auch von der Reaktion der Öffentlichkeit auf solche Äußerungen ab. Die Normalisierung von Hass kann nur erfolgen, wenn der Rest der Gesellschaft schweigt.

Des Weiteren gibt es Menschen, die sich ihrer sexuellen Identität und ihrer Vorlieben jetzt gerade gewahr werden. In diesem Zusammenhang sind es einschneidende Erlebnisse von großer Bedeutung, wenn sie im Fernsehen hören, dass sie hingerichtet werden sollten – und derartiges hören sie ständig.

Boróka Parászka ist Journalistin und Redakteurin bei hvg.hu. Sie lebt im rumänischen Târgu Mureș.

Danke, dass Sie die 26. Ausgabe von European Focus gelesen haben.

Mehrere Jahrzehnte sind vergangen, seit die ersten Menschen in den USA begannen, für die Rechte von Schwulen und Lesben und später für die gesamte LGBTQ-Community zu kämpfen. Mittlerweile vollzieht sich der gesellschaftliche Wandel deutlich schneller.

Vielleicht müssen wir gar nicht mehr so lange warten, bis es wirkliche Gleichstellung und Gleichberechtigung gibt. Das wünsche ich mir für Europa und alle seine Bürgerinnen und Bürger. 

In der kommenden Woche machen wir eine Osterpause; deswegen: Bis übernächste Woche! 

Michał Kokot

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

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