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Ursula von der Leyen im EU-Parlament in Straßburg: „Es geht hier nicht darum, ob wir entweder die Integration vertiefen oder die Union erweitern.“

© AFP/FREDERICK FLORIN

Rede zur Lage der Union: Mit diesen fünf Punkten will von der Leyen die EU erneuern – aber klappt das auch?

Die EU-Kommissionspräsidentin will sich für eine zweite Amtszeit ins Rennen bringen. Bei ihrer jährlichen Rede wollte sie erneut von ihrer Arbeit überzeugen. Ein Check ihrer Erfolgsaussichten.

Die Worte ihres Vorgängers waren deutlich. Vor der großen Rede zur Lage der Europäischen Union von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an diesem Mittwoch sagte Jean-Claude Juncker im Deutschlandfunk: „Die EU muss ihre Entscheidungsmechanismen reformieren. Die sind schwerfällig, die sind eigentlich auf sechs Mitglieder ausgelegt.“

Es brauche eine Reform der Abstimmungsregeln. Soll heißen: Die Mitgliedsstaaten sind nicht schnell genug handlungsfähig, gerade in der Außen- und Verteidigungspolitik.

Das will auch von der Leyen ändern – doch neben Reformen geht es für die Spitzen-Politikerin auch um etwas anderes. Nach der Europawahl im Juni 2024 werden die Staats- und Regierungschefs entscheiden, ob die 64-Jährige eine zweite Amtszeit bekommen wird.

Dafür braucht sie auch die Zustimmung des Europaparlaments, dem sie an diesem Mittwoch in ihrer Rede viel versprochen hat. Doch wird sie das auch halten können? Ein Check der Erfolgschancen.


1. EU-Erweiterung und Handlungsfähigkeit

Was von der Leyen will:

Die Kommissionschefin sieht eine „vollendete Union“ als „historische Aufgabe“ Europas. Konkret will sie, den Beitritt der Ukraine, Moldaus und der Länder des Westbalkans, außerdem gegebenenfalls Georgiens.

Auch die Handlungsfähigkeit der EU möchte sie stärken. „Es geht hier nicht darum, ob wir entweder die Integration vertiefen oder die Union erweitern. Wir können und müssen beides tun“, sagte die EU-Kommissionspräsidentin. „Jede Erweiterungswelle ging mit einer politischen Vertiefung einher.“ Deswegen werde die Kommission in manchen politischen Bereichen überprüfen, wie sich eine größere Union von mehr als 30 Mitgliedsländern auf den Staatenverbund auswirken würde und was als Konsequenz angepasst werden müsste.

Wie sind die Erfolgsaussichten?

Schlecht. Der Krieg in der Ukraine hat zwar Bewegung in die EU-Erweiterungspolitik gebracht. Es ist gut möglich, dass die EU-Länder im Oktober oder November grünes Licht für Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine geben werden. Dies heißt aber nicht, dass es in absehbarer Zeit die „große Willkommensfeier“ geben wird, die sich von der Leyen wünscht.

Denn: Über eine Erweiterung der EU entscheidet nicht die Kommission, sondern einzig die Mitgliedstaaten – und zwar einstimmig. Das hat in den vergangenen Jahren immer wieder zu Blockaden geführt und wird auch in Zukunft so sein. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vertritt etwa die Auffassung, dass sich die EU erst reformieren müsse, bevor eine Erweiterung möglich sei. Er will stattdessen lieber eine sehr enge politische Partnerschaft mit den Erweiterungskandidaten.

Zugeschalteter ukrainischer Präsident Selenskyj im EU-Parlament 2022: Baldiger Beginn der Beitrittsverhandlungen?

© dpa / JONAS ROOSENS

Auch das Einstimmigkeitsprinzip in der Außenpolitik (neben der Finanzpolitik das einzige Politikfeld, in dem nicht das Mehrheitsprinzip gilt) wird in absehbarer Zeit nicht abgeschafft – weil dafür wiederum eine Einstimmigkeit erforderlich ist und einige EU-Länder eine Änderung ablehnen. Denkbar ist einzig, dass in einigen Teilbereichen, wie zum Beispiel bei der Sanktionspolitik, auf ein Mehrheitsprinzip gewechselt wird.

2. Wettbewerbsfähigkeit

Was von der Leyen will:

Von der Leyen hob hier drei Risiken hervor: 1.) die Abhängigkeit bei seltenen Rohstoffen und Lieferketten vom Ausland, allen voran China, 2.) die Nachteile für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) durch zu viele Regeln und Bürokratie und 3.) den Mangel an Fachkräften.

Die EU-Chefin will vor jedem neuen EU-Gesetz die Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit prüfen, einen KMU-Beauftragten ernennen, der ihr direkt berichtet, und den früheren EZB-Präsidenten Mario Draghi mit einem Bericht beauftragen. Wie einst beim Euro werde Europa tun „whatever it takes“.

Konkret will die Kommission im Fall China tätig werden und eine Untersuchung gegen China wegen illegaler Subventionen für E-Autos einleiten, damit europäische Firmen nicht – wie in der Solarbranche – durch Dumpingpreise Pleite gehen.

Wie sind die Erfolgsaussichten?

Gut – zumindest bei dem Verfahren gegen China. Moderat beim Rohstoffhandel. Eingeschränkt beim Wust an Richtlinien und Bürokratie, weil Kommission und Parlament Urheber des Übels sind und umdenken müssten.

Ursula von der Leyen 2020 vor einem Videotreffen mit der chinesischen Staatsführung.

© imago/Xinhua/via www.imago-images.de

3. Eine neue Partnerschaft mit Afrika

Was von der Leyen will:

„Wir müssen Afrika gegenüber ebenso an einem Strang ziehen, wie wir es bei der Ukraine getan haben“, forderte von der Leyen vor den EU-Abgeordneten. Demnach soll die Afrika-Politik der europäischen Länder vereinheitlicht werden. Die Zusammenarbeit solle sich auf „rechtmäßige Regierungen und regionale Organisationen konzentrieren“, sagte sie in Hinblick auf die jüngst stattgefundenen Militärputsche in der Sahelzone.

Es müsse „eine für beide Seiten vorteilhafte Partnerschaft“ geschaffen werden. Hierfür soll es eine neue EU-Strategie geben, welche die Brüsseler Behörde beim nächsten Gipfel mit der Afrikanischen Union vorstellen will. Des Weiteren will von der Leyen das erste Treffen des neuen Clubs für kritische Rohstoffe einberufen, zu dem die EU, Afrika und Südamerika gehören und mit dem globale Lieferketten in diesem Bereich aufgebaut werden sollen.

Wie sind die Erfolgsaussichten?

Gemischt. Das Bewusstsein, dass Afrika ein wichtiger Partner ist, ist in den europäischen Hauptstädten schon seit längerem angekommen. Allerdings sind die Europäer nicht die einzigen, die die Afrikaner umgarnen. Insbesondere Russland und China wollen den Kontinent für ihre Zwecke an sich binden. Außerdem arbeitet Afrika daran, seine eigenen Industrien aufzubauen, will also nicht mehr nur Rohstoffe ins Ausland exportieren. Um die Afrikaner von sich zu überzeugen, müsste die EU also einiges anbieten.

Wir müssen Afrika gegenüber ebenso an einem Strang ziehen, wie wir es bei der Ukraine getan haben.

Ursula von der Leyen, EU-Kommissionspräsidentin

4. Migration

Was von der Leyen will:

Vom Parlament forderte von der Leyen, den Migrationspakt rasch zu verabschieden. Er schaffe eine neue Balance zwischen dem Schutz der Grenzen und der Menschlichkeit. Während Millionen Menschen durch Kriege und Konflikte ihre Heimat verlören, fehlten zugleich in der EU Millionen Arbeitskräfte in Industrie, Gastronomie, Krankenhäusern und Pflege. Allein aus der Ukraine haben vier Millionen in der EU Zuflucht gefunden. Die Kommissionschefin forderte „mehr Geduld“ und Kooperationsbereitschaft der Mitgliedsländer und mehr Abkommen mit sicheren Drittstaaten. Und: „Lassen wir Bulgarien und Rumänien endlich in den Schengen-Raum“; sie hätten bewährte Verfahren für Asyl und Migration eingeführt.

Wie sind die Erfolgsaussichten?

Begrenzt. Die EU-Länder und das Parlament sind uneins. Grüne und Linke wollen den Migrationspakt aufschnüren und haben kein Vertrauen in die Asylverfahren in Süd- und Balkanländern. Von der Leyens Behauptung – „wir haben irreguläre Migrationsströme reduziert“ – stimmt nicht. Sie nähern sich den Rekordzahlen von 2015.

5. Klimapolitik

Was von der Leyen will:

Der Green Deal soll von der Leyens Vermächtnis sein. Den Plan, die EU bis 2050 klimaneutral umzubauen, stellte sie bereits Ende 2019 zu Beginn ihrer Amtszeit vor; mittlerweile sind alle großen klimapolitischen Gesetze beschlossene Sache. Nun geht es um die Umsetzung und darum, zukünftige Gegenangriffe auf die Klimapolitik zu verhindern. Hier setzt von der Leyen auf Dialog und Finanzhilfen. „Wir werden die europäische Industrie weiter unterstützen – während des gesamten Übergangs“, sagte sie. Ab diesem Monat werde eine Serie von Energiewende-Gesprächen mit der Wirtschaft geführt. Jeder Sektor solle gezielt bei der Entwicklung eines Geschäftsmodells im Sinne des Green Deals unterstützt werden.

Auch mit der Landwirtschaft will sie einen Dialog starten. „Ich bin und bleibe davon überzeugt, dass Landwirtschaft und Naturschutz zusammen gehen. Wir brauchen beides“, sagte von der Leyen.

Ich bin und bleibe davon überzeugt, dass Landwirtschaft und Naturschutz zusammen gehen. Wir brauchen beides.

Ursula von der Leyen, EU-Kommissionspräsidentin

Wie sind die Erfolgsaussichten?

Mäßig. Von der Leyen hat das Problem, mit ihrer Klimapolitik rechten Kräften Auftrieb zu geben. Sollten diese mehr Einfluss auf EU-Ebene bekommen, könnten sie den Green Deal torpedieren. Dialog allein wird da nicht helfen. Geld schon eher. Einen Wohlstandsverlust, auch bei Privatpersonen, muss die Kommission unbedingt verhindern. Bislang hat sie allerdings keine konkreteren Konzepte dafür, als die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern.

Rede zur Lage der Union: Was fehlte...

Von der Leyen sprach viel über Sicherheit, aber wenig über den Ukraine-Krieg an der EU-Ostgrenze und darüber, wie Europa sich militärisch ohne die USA schützen will. Es fehlten Lösungsvorschläge zu den Konflikten um das EU-Budget und dazu, wie die EU die vielen hundert Milliarden Schulden Euro zurückzahlen will, die sie für das Konjunkturprogramm nach der Corona-Rezession und den Green Deal aufgenommen hat, etwa durch eigene Steuern. Offen blieb auch, wie der Streit um den Rechtsstaat mit Polen und Ungarn enden kann.

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