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Nicht nur die EU ist Europa.

© Zhang Cheng/XinHua/dpa

Brüssels Arroganz gegenüber dem Balkan: Warum die Parole von der „Europäisierung“ Übelkeit auslöst

Die EU rühmt sich gern, Nichtmitgliedern den „Weg nach Europa“ anzubieten. Und merkt nicht, dass dies zutiefst europäische Länder aus Europa ausgrenzt.

Ein Gastbeitrag von Dušan Reljić

„Der Europäische Rat erkennt die europäische Perspektive der Ukraine, der Republik Moldau und Georgiens an“ – so beginnt die Antwort des Europäischen Rates am 23. Juni 2022 auf die Gesuche dieser drei Staaten, der Europäischen Union beizutreten.

Wenige Tage vorher hatte die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, erklärt: „Wir alle wissen, dass die Ukrainer bereit sind, für die europäische Perspektive zu sterben.“

Mit einiger Wahrscheinlichkeit sind sich weder von der Leyens Redenschreiber noch die Verfasser der Erklärungen des Europäischen Rates bewusst, dass sie mit solchen Wendungen nur immer mehr politische Übelkeit bei einem beträchtlichen Teil ihrer Adressaten hervorrufen.

Warum die Parole „Europäisierung“ Übelkeit auslöst

Sie bricht in der Regel aus, wenn Politik und Presse den „Weg nach Europa“ ausmalen oder die Politikwissenschaft über die „Europäisierung“ disputiert.

Während die EU-Kommissionspräsidentin den Gemeinplatz von der „europäischen Perspektive“ sogar im Zusammenhang mit Krieg und Sterben verwertet, bedeuten für ihre Hauptadressaten diese zwei Worte vor allem Ausgrenzung und Hierarchisierung im gegenseitigen Verhältnis.

Die Vorbedeutung (das „Omen“) solcher Begriffe ist dem Publikum in Südosten und Osten des Kontinents ohne Weiteres klar: ihre Länder werden außerhalb Europas eingeordnet.

Denn wer erst eine „europäische Perspektive“ vor sich hat, gehört eindeutig nicht zu Europa. Die tatsächliche geografische Lage spielt in diesem hegemonialen politischen Diskurs keine Rolle.

Was für die Note „ungenügend“ im Erdkundeunterricht in der Grundschule gesorgt hätte, wird zur politischen Maxime und fußt im tief sitzenden und selten hinterfragten Glauben, dass nur die Europäische Union tatsächlich Europa ist.

Entweder werden dabei einige andere stillschweigend mitgerechnet, wie die reichen westeuropäischen Nicht-EU-Staaten, die Schweiz, Norwegen und Island.

Oder sie werden im politischen Diskurs herausdefiniert, wie im Fall jener Südost- oder Osteuropäer, vor denen ja die „europäische Perspektive“ erst steht. In dieser Phrase verdichten sich das Denken und die politische Praxis Westeuropas gegenüber Südost- und Osteuropa.

Jugoslawien gehört natürlich zu Mitteleuropa.

Dušan Reljić über die deutsche Diplomatie nach dem Zerfall des Ostblocks

Im Sommer 2003, auf dem Thessaloniki-Gipfel, verlautbarten die Staats- und Regierungschefs der EU die „europäische Perspektive“ für die Nachfolgestaaten Jugoslawiens und Albanien. Jugoslawien gab es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr, und die Suche nach einem gemeinsamen politischen Nenner für die Region war knifflig.

Das britische Foreign Office hatte eine Zeit lang den Begriff „Eastern Adriatics“ verwendet (und wohl auch erfunden). Der Grund war sicher, die im Englischen stark negativen Konnotationen von „balkanisation“ (laut Wörterbuch die Aufteilung in kleinere, einander feindlich gesinnte Staaten oder Gruppen) zu vermeiden. Gedanklich und geografisch eng verbunden ist das Beiwort „byzantine“ für “undurchschaubar”.

In der EU-Verwaltung in Brüssel, einem in der britischen Presse oft als byzantinisch beschriebenen System, wurde dann der vermeintlich neutrale Begriff „Westbalkan“ erfunden. Vom Ost-, Süd-, oder gar Nordbalkan wurde seither nie etwas vernommen, aber für Jugoslawien minus Slowenien und Kroatien plus Albanien verfestigte sich diese Bezeichnung. Neue Nomen hatten schon vor den Kriegen in Jugoslawien eine wichtige politische Rolle gehabt.

„Balkan-Kriege“: Ein Wort als Denkfehler

Um 1989, als sich der Ostblock in der Auflösung befand und Europa gedanklich und faktisch neu geordnet werden sollte, waren deutsche Diplomaten bemüht, eine frische Sprachregelung für die politische Zugehörigkeit Jugoslawiens zu finden. „Jugoslawien gehört natürlich zu Mitteleuropa“ hieß dann plötzlich die neue Einordnung in Bonn.

Ungarn, Polen und die Tschechoslowakei brüsteten sich zu diesem Zeitpunkt ihrer mitteleuropäischen Geschichte und schmachteten wortstark nach einer „Rückkehr nach Europa“.

Die Einreihung Jugoslawiens in Mitteleuropa verschwand allerdings umgehend aus dem Sprachgebrauch, als 1991 die „Balkan-Kriege“ ausbrachen. Der Begriff war und ist ein kapitaler Denkfehler: Zwischen 1991 und 2001 wurden allein in Jugoslawien Kriege geführt, nirgendwo sonst auf dem Balkan.

Dennoch ist die Klassifizierung bis zum heutigen Tage im Umlauf. Vielleicht wurzelt sie in vager Erinnerung daran, dass es Anfang des 20. Jahrhunderts auf der Balkan-Halbinsel Kriege gegeben hat. Wie immer in der Geschichte Südosteuropas spielten dabei die KuK-Monarchie, die Türkei, Deutschland, Frankreich, Italien und Russland, eben die damaligen Großmächte, die bestimmende Rolle.

Aber als Hauptmerkmal der westeuropäischen Betrachtung dieser Kriege galt damals die angeblich besonders schlimme Brutalität der Balkanvölker. Mit der Festlegung auf die „Balkan-Kriege“ als Nomen für die bewaffneten Auseinandersetzungen um die Nachfolge Jugoslawiens ab 1991 wurde eine direkte Verbindung zu den Ereignissen vor hundert Jahren hergestellt – und zugleich eine Klassifizierung.

Die westliche Begrifflichkeit ist die einzig verbliebene, um Europa gedanklich zu fassen. 

Dušan Reljić, Berater für europäische Angelegenheiten

Auffallend war jedenfalls, dass Slowenien und Kroatien sofort mit ihrer Sezession von Jugoslawien, weit vor dem EU-Beitritt, im Westen nicht mehr als zum Balkan gehörig verstanden wurden.

Nach dem Fall der Berliner Mauer hat sich die Vormachtstellung des westlichen politischen Diskurses in Europa zementiert. Genauso wie der Kapitalismus die einzige verbliebene Produktionsweise geblieben ist, so ist die westliche Begrifflichkeit die einzig verbliebene, um Europa gedanklich zu fassen.

Nur die eine „europäische Perspektive“ ist vorhanden, nämlich diejenige des „Weges nach Europa“, der über viele „schmerzhafte, aber notwendige Reformen“ und die „Erfüllung unabdingbarer Konditionen“ führt.

In einem Akt der Selbstkolonisierung übernimmt auch die politische Klasse im Südosten und Osten beständig diese Begrifflichkeit, ohne sie zu hinterfragen. Der Widerspruch, ja die Selbstausgrenzung darin wird zumeist überhaupt nicht wahrgenommen.

Die geopolitischen Zeichen stehen schlecht

Die südost- und osteuropäischen Staaten brauchen keine „europäische Perspektive“, denn sie haben sich nirgendwo aus Europa bewegt. So, wie sie jetzt politisch, wirtschaftlich und sozial verfasst sind, sind sie das Zwischenergebnis von erfreulichen und tragischen Ereignissen und Epochen in der gemeinsamen europäischen Geschichte.

So ist der Verlauf des Zerfalls Jugoslawiens ab 1989 auf das Engste mit dem Einwirken der anderen europäischen Staaten, insbesondere Deutschlands, verbunden. Dass Russland die Ukraine überfallen hat, ist auch das Ergebnis der gescheiterten Suche nach einem neuen Verhältnis zwischen Moskau und dem Westen, das für beide Seiten annehmbar gewesen wäre.

In jedem Fall sind die geopolitischen Omen in Europa und besonders in Ost- und Südosteuropa jetzt, im Sommer 2023, keineswegs günstig. Es herrscht nicht der neue Kalte Krieg, denn während dieser Epoche befand sich der Westen durchaus nicht faktisch im Kriegszustand mit Russland wie jetzt.

Der Gedanke, dass es in Zukunft auch mit China zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommen könnte, ist keine politische Dystopie mehr. Es ist tatsächlich eine Zeitenwende eingetreten. Man sucht derzeit noch nach Worten, um den überaus verschlechterten Stand der Dinge zu bezeichnen. Sozusagen um die neueste europäische Perspektive zu benennen.

Der Text ist der gekürzte Vorabdruck eines Beitrags von Dušan Reljić für das demnächst erscheinende Buch von Wolfgang Dahmen, Petra Himstedt-Vaid, Gabriella Schubert (Hrsg.): Nomen est omen. Die Bedeutung von Namen in südosteuropäischen Kulturen. Wiesbaden: Harrassowitz 2023. 

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