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Soll für die ganz EU sprechen, trotz 27 verschiedener nationaler Interessen: Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

© imago images/Xinhua/RICCARDO PAREGGIANI via www.imago-images.de

Rede zur Lage der EU: Bewirbt sich Ursula von der Leyen um eine zweite Amtszeit?

Ukraine, Green Deal, China, Streit um den Rechtsstaat: Drei Experten schauen voraus, was die EU-Kommissionspräsidentin in Straßburg hervorheben und welche Themen sie vermeiden wird.

Wird sie ihren Anspruch auf eine zweite Amtszeit als EU-Kommissionspräsidentin anmelden oder nicht? Das ist die viel diskutierte Frage vor Ursula von der Leyens „Rede zur Lage der Europäischen Union“ an diesem Mittwoch um 9 Uhr im Europäischen Parlament (EP) in Straßburg.

Die jährliche „State of the European Union”, Kürzel SoEU, ist eine junge Übung seit 2012. Sie kopiert die viel ältere amerikanische Tradition. Der US-Präsident legt seit Jahrzehnten zu Jahresbeginn vor beiden Kammern des Kongresses Rechenschaft über die Lage der Nation ab.

Was wird sie sagen?

Von der Leyens SoEU ist die letzte vor der Europawahl im Juni 2024. Deshalb dürfte sie mehr Aufmerksamkeit als sonst auf sich ziehen. Will sie Spitzenkandidatin des bürgerlichen Parteienbündnisses EVP werden?

„Sie wird sich nicht offiziell um eine zweite Amtszeit bewerben, aber eine indirekte Bewerbungsrede halten und nach der Devise ,Versprochen – gehalten‘ ihre Erfolge bilanzieren“, prognostiziert Roland Freudenstein. Er leitet das Brüsseler Büro des Think Tanks Globsec. „Dabei muss sie allen Strömungen im Parlament entgegenkommen,“ nicht nur ihren Parteifreunden in der EVP, sondern auch Sozialisten und Grünen.

Sie hat die EU schneller und eindeutiger in die Koalition zur Unterstützung der Ukraine geführt als viele nationale Regierungen.

Roland Freudenstein leitet das Brüsseler Büro des Think Tanks Globsec.

„Nach Russlands Angriff auf die Ukraine hat sie die EU schneller und eindeutiger in die Koalition zur Unterstützung Kiews geführt als viele nationale Regierungen und die mitunter schwerfällige Brüsseler Bürokratie auf diese Linie verpflichtet“, sagt Freudenstein. „Dass die EU Waffen, Munition und die Ausbildung ukrainischer Soldaten finanziert, ist etwas ganz Neues. Sie stellt jetzt das meiste Geld von allen Unterstützern zur Verfügung.“

„Sie hat den Green Deal in der Gesetzgebung der EU durchgesetzt; wie konsequent er umgesetzt wird, ist eine andere Frage“, zählt Freudenstein auf. „Und im Umgang mit China hat sie früher als die Mitgliedstaaten ,De-Risking‘ als Ziel ausgegeben und auch da schneller gehandelt.“

Susi Dennison, Expertin für EU-Außenpolitik beim European Council on Foreign Relations (ECFR) in Paris, erwartet, dass von der Leyen ihre Erfolge mit dem Wort Sicherheit verbindet. „Sie verfolgt eine Strategie ökonomischer Sicherheit, Stichwort China. Eine Strategie der Energiesicherheit durch Abkopplung von russischen Lieferungen. Eine Strategie der Klimasicherheit mit dem Green Deal.“

„Sie wird betonen, dass sie die EU durch eine sehr gefährliche Zeit gesteuert hat“, erwartet Dennison. Und darauf achten, dass sie für möglichst viele EU-Mitglieder etwas im Angebot hat. Für Frankreich, zum Beispiel, die Stärkung der strategischen Autonomie der EU.

Aus der Sicht Polens und anderer östlicher EU-Mitglieder „fällt von der Leyens Bilanz gemischt aus“, analysiert Piotr Buras. Er leitet das Warschauer Büro des ECFR. „Die Militärhilfe und die Unterstützung der Ukraine als EU-Beitrittskandidat sind ein klares Plus, ebenso die Sanktionen gegen Russland.“

Der Green Deal wird im Osten der EU negativ gesehen.

Piotr Buras leitet das Warschauer Büro des European Council on Foreign Relations (ECFR). 

Im Streit um den Rechtsstaat „hatte die PiS-Regierung mehr Entgegenkommen erwartet, nachdem sie von der Leyens Wahl zur Kommissionspräsidentin unterstützt hatte“, erläutert Buras. „Der Green Deal wird im Osten der EU negativ gesehen. Im Westen beschweren sich viele über faule Kompromisse und darüber, dass der Deal nur halbherzig umgesetzt werde. Im Osten lehnen ihn viele komplett ab.“

Welche Themen wird sie vermeiden?

„Um knifflige und konfliktbeladene Themen wie Budgetfragen, Migration, Rechtsstaat wird sie einen Bogen machen“, meint Susi Dennison. „Aber das ist ein Balanceakt, weil sie strategische Vorhaben ansprechen muss. In Sachen Erweiterung um die Ukraine und den Westbalkan wird sie die Bereitschaft der EU betonen, aber wenig dazu sagen, wann und wie das geschehen soll. Denn die Details sind umstritten.“

Emmanuel Macron hält sich in der Frage einer zweiten Amtszeit für von der Leyen bedeckt.

Susi Dennison, Expertin für EU-Außenpolitik beim European Council on Foreign Relations (ECFR) in Paris.

„Polen möchte, dass die Ukraine bald beitritt, aber bitte ohne institutionelle Reform wie die Aufgabe des Vetorechts und den Übergang zu Mehrheitsentscheidungen“, erläutert Piotr Buras. „Frankreich sieht es umgekehrt: keine Neuaufnahmen ohne Reform der Entscheidungsprozesse.“

Wie stehen ihre Chancen auf eine zweite Amtszeit?

„Für Nationalpopulisten ist von der Leyen die Buh-Frau und das Monster, das Brüssels Machtansprüche verkörpert“, sagt Roland Freudenstein. „Sie hat Deutschland hinter sich, aber als Alternative läuft sich der französische Binnenmarktkommissar Thierry Breton warm.“

„Polens Position hängt vom Wahlausgang in gut vier Wochen ab“, sagt Piotr Buras. „Wird Oppositionsführer Donald Tusk Premier, hat sie Polens Unterstützung. Bei einem PiS-Sieg eher nicht. Aber es hängt auch davon ab, welche Koalitionen sich für wen abzeichnen.“

„Emmanuel Macron hält sich in der Frage bedeckt“, analysiert Susi Dennison. „Er hat von der Leyen vor vier Jahren vorgeschlagen und ist heute nicht gegen sie. Aber wenn sich eine Person anbietet, die französische Interessen noch besser vertritt, und Aussicht auf eine Mehrheit hat, würde das an ihm nicht scheitern.“

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