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Der ukrainische Präsident Selenskyj beim EU-Gipfel am 9. Februar 2023.

© dpa/AP/Olivier Matthys

Strategische Autonomie bleibt Wunschdenken: „Ohne die USA schafft Europa keine Sicherheit“

Warum scheitert die EU daran, Frieden in der Ukraine und anderswo auf ihrem Kontinent aus eigener Kraft zu organisieren? Drei Experten geben Antworten.

Die Europäische Union (EU) strebt strategische Autonomie an, ist aber nicht in der Lage, einen regionalen Krieg auf dem europäischen Kontinent zu beenden – heute in der Ukraine, in den 1990er Jahren im zerfallenden Jugoslawien.

Die Europäer gelobten damals mehr Eigenverantwortung. Doch bis heute zeigt sich die Abhängigkeit von der Führung und Militärmacht der USA.

Was hat sich seither verbessert, was nicht? Drei Experten analysieren die Entwicklung.

Das sagt Wolfgang Ischinger:
„Die Hoffnungen auf eine sicherheitspolitisch handlungsfähigere EU haben sich leider bisher nicht erfüllt. Sie blieben in bürokratischen, budgetären und rhetorischen Manövern stecken. Immerhin befasst sich der Europäische Rat regelmäßig mit Themen der Sicherheit und Verteidigung. Ein Defense Fund wurde errichtet, ein strategischer Kompass entwickelt.

Bei Lichte betrachtet hat das alles wenig gefruchtet. Strategische Autonomie bleibt genauso eine schöne Vision wie das Fernziel einer Europäischen Armee, das immer wieder ergebnislos durch deutsche Parteiprogramme geistert.

Stattdessen definieren viele EU-Mitglieder ihre eigene Sicherheit angesichts der russischen Aggression in der Ukraine heute noch stärker als in der Vergangenheit über eine möglichst enge Anbindung an die Schutzmacht USA.

Die 100 Milliarden Euro Sondervermögen reichen bei weitem nicht, um die Bundeswehr modern, digital und schlagkräftig auszustatten.

Wolfgang Ischinger, Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz von 2008 bis 2022

Olaf Scholz hat das in der Panzerdebatte vorexerziert. Warum sollten kleinere Partner nicht dem deutschen Beispiel folgend denken: Glaubwürdigen Schutz bietet uns nur die Beistandsklausel des Nato-Vertrags?

Es gibt vor allem zwei Gründe, warum Europa trotz aller Lippenbekenntnisse unfähig erscheint, sich selbst zu verteidigen. Erstens fehlen die militärischen Fähigkeiten. Die 100 Milliarden Euro Sondervermögen reichen bei weitem nicht, um die Bundeswehr modern, digital und schlagkräftig auszustatten.

Zu viel ist in drei Jahrzehnten versäumt worden. Und bei vielen unserer EU Partner sieht es leider nicht wesentlich besser aus. 

Für das Überleben der Ukraine ist die Unterstützung der USA wichtiger. Wolodymyr Selenskyjs erster Auslandsbesuch im Krieg führte ins Weiße Haus zu US-Präsident Joe Biden.
Für das Überleben der Ukraine ist die Unterstützung der USA wichtiger. Wolodymyr Selenskyjs erster Auslandsbesuch im Krieg führte ins Weiße Haus zu US-Präsident Joe Biden.

© dpa/Patrick Semansky

Zweitens fehlen klare gemeinsame sicherheitspolitische Ziele und Entscheidungsprozeduren, die Handlungsfähigkeit in der Krise erlauben. Solange die Vorstellungen über das strategische Ziel im Fall Ukraine so stark voneinander abweichen – vom Sieg Kiews über Moskau bis zur Eskalationsvermeidung um (fast) jeden Preis –, sind wir weder für die USA noch Russland ein glaubwürdiger Akteur.

Wir bringen noch nicht einmal eine ernsthafte Debatte über außenpolitische Mehrheitsentscheidungen in der EU zustande. Der Koalitionsvertrag schreibt Europa in Großbuchstaben, aber im Ukrainekrieg wird Europa zur Fußnote degradiert. Dafür ist Deutschland mitverantwortlich. Eine vertane Chance. Hoffentlich bleibts nicht dabei. Es wird ein langer Krieg!“

Marieluise Beck sieht Europa in einem sehr langsamen Lernprozess:
„1991 begann der erste Krieg in Europa nach 1945. Nach dem Zerfall der Sowjetunion zerfällt auch Jugoslawien. Dem Streben nach Selbstständigkeit begegnet das jugoserbische Militär mit dem Überfall auf Slowenien, Kroatien und Bosnien.

Das internationale Waffenembargo wendet sich faktisch gegen die angegriffenen Bosnier. Das Mandat des Sicherheitsrates macht UN-Blauhelme zu hilflosen Zuschauern. Erst das große Morden von Srebrenica zwingt zum Eingreifen – unter Führung der USA. 

2014 überfällt Russland die Ukraine, annektiert die Krim und trennt Gebiete im Osten ab. Es folgt ein quälender Verhandlungsprozess. Deutschland sieht in Russland weiterhin einen unverzichtbaren Partner. Es sind wieder die USA, die beginnen, die Ukraine militärisch auszurüsten. Ohne sie gäbe es keine unabhängige Ukraine mehr. 

Die symbolische Entschlossenheit der EU ist vielfach stärker als die reale.

Marieluise Beck, langjährige Osteuropaexpertin der Grünen.

2022 erwacht die EU langsam aus ihrem sicherheitspolitischen Dämmerschlaf. Regierungschefs und Kommissare reisen nach Kiew. Das Gebot ,Keine Waffen in Krisengebiete’ fällt.

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Doch die symbolische Entschlossenheit ist vielfach stärker als die reale. Dass ein Sieg der Ukraine in unserem ureigenen Interesse ist, verstehen Amerikaner, Balten und Polen besser als viele Deutsche.

Panzer für die Ukraine sind ein seltenes Beispiel dafür, dass Europa der Ukraine militärisch mehr zu bieten hat als die USA. Von links oben nach rechts unten: ein britischer  Challenger, ein französischer Leclerc, ein deutscher Leopard und ein amerikanischer Abrams.
Panzer für die Ukraine sind ein seltenes Beispiel dafür, dass Europa der Ukraine militärisch mehr zu bieten hat als die USA. Von links oben nach rechts unten: ein britischer Challenger, ein französischer Leclerc, ein deutscher Leopard und ein amerikanischer Abrams.

© AFP/Eric Feferberg

Ob die EU aus dieser Prüfung gestärkt hervorgeht und Deutschland in die reklamierte Führungsrolle hineinwächst, ist noch nicht ausgemacht. Wie vor 30 Jahren gilt aber noch heute: Ohne das Engagement der Vereinigten Staaten kann sich Europa nicht verteidigen.“

Roland Freudenstein analysiert:
„Auch wenn Sicherheit inzwischen eine größere Rolle in der EU spielt: Für die Verteidigung Europas ist weiterhin die Nato zuständig. Also in erheblichem Maße die USA. Das hat sich im Ukrainekrieg gerade wieder eindrucksvoll bestätigt: Ohne die USA und Großbritanniens hätte die Ukraine schon verloren.

Mitteleuropäer witzeln heute in Anspielung auf ein Macron-Zitat von 2017: Nicht die Nato ist hirntot, sondern die Idee einer strategischen Autonomie Europas.

Für die Verteidigung Europas ist weiterhin die Nato zuständig. Also in erheblichem Maße die USA.

Roland Freudenstein, Brüsseler Büroeiter des Thinktanks Globsec.

Das sieht man zwar in Westeuropa anders – mit dem Hinweis, dass nach der US-Wahl 2024 Donald Trump oder ähnlich gesinnte Republikaner Europa vollends den Rücken kehren könnten. Folglich müsse die EU endlich ihre eigene Verteidigung aufbauen. Aber an der Ostflanke hat man aufgrund schmerzhafter Erfahrung mit Deutschen und Franzosen einfach kein Vertrauen in eine rein europäische Verteidigung und Abschreckung.

Einerseits haben die Europäer seit den 1990ern viel Weg zurückgelegt. Andererseits viel zu wenig, angesichts der globalen Herausforderungen. Ein Beispiel: Die EU finanziert heute erstmals in großem Stil Waffenlieferungen. Die Ukraine hat so bisher Material im Wert von 11,5 Milliarden Euro erhalten. Eine militärische Ausbildungsmission für die Ukraine hat begonnen und wird stetig ausgebaut.

Aber ein Gegenbeispiel ist das Trauerspiel um die ,Battlegroups’: 1999 beschloss die EU insgesamt 60.000 Soldaten fuer Auslandseinsätze. Außer in gemeinsamen Übungen wurden sie bisher nie eingesetzt, auch nicht für die Evakuierung von EU-Bürgern aus Kabul 2020.

Die Europäer sollten sich auf drei Prioritäten konzentrieren: erstens eine noch engere Kooperation zwischen Nato und EU; Militärisches und Ziviles lassen sich ohnehin immer weniger voneinander trennen.

Zweitens dauerhaft höhere Verteidigungsausgaben; das sollte seit 2022 selbstverständlich sein. Drittens ein stärkeres Zusammengehen mit den USA und anderen Demokratien gegenüber China.

Alle drei Punkte würden es den Proeuropäern in Washington leichter machen, für ein weiteres Sicherheitsengagement in Europa einzutreten. Ein starkes Europa in einem starken Bündnis ist die richtige Antwort.“

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