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© Tagesspiegel / European Focus

European Focus #61: Bevölkerungsentwicklung, ein umkämpftes Terrain

„Ich werde Frankreich nicht aufrüsten“ +++ Zahl der Woche: 11 Millionen +++ Traue keiner Statistik… +++ Polens Parteien wollen „keine erzwungene Solidarität“ +++ Fernab von 44 Millionen?

Hallo aus Berlin, 

Demografie ist ein Thema, das uns schon bei vielen Ausgaben des European Focus indirekt begleitet hat. Heute wollen wir uns der Problematik explizit widmen: In ganz Europa zeigt sich zunehmend, dass es zu wenig Menschen beziehungsweise zu wenig Arbeitskräfte gibt.

Beispiel Deutschland: Ohne Immigration würde die Bevölkerungszahl sinken und große Probleme im Arbeitsmarkt entstehen. Gleichzeitig erfreut sich die rechtsradikale AfD weiterhin einem Umfragehoch – trotz oder gerade wegen ihrer Pläne für Massenabschiebungen aus Deutschland.

Überall in Europa gibt es in Sachen Bevölkerungsentwicklung Herausforderungen und Konfliktpotenzial: sei es, dass Emmanuel Macron in Frankreich eine „demografische Aufrüstung“ fordert, oder dass die nordmazedonische Regierung Volkszählungen abblasen ließ, weil die Ergebnisse wohl durch mazedonische sowie albanische Nationalisten verfälscht worden wären.

Demografie scheint ein hart umkämpftes Terrain zu sein. Wir wünschen Ihnen dennoch viel Spaß mit der aktuellen Newsletter-Ausgabe.

Teresa Roelcke, dieswöchige Chefredakteurin

„Ich werde Frankreich nicht aufrüsten“

Am Telefon klingt die 29-jährige Léa Marco selbstbewusst: „Ich habe nicht das Bedürfnis, ein Kind zu bekommen. Ich fühle mich erfüllt, ohne Mutter zu werden. Ich möchte Zeit für mich haben.“ In Frankreich würden fast zehn Prozent der Bevölkerung dieser Ansicht zustimmen – vor allem junge Menschen in ihren Zwanzigern und Dreißigern.

„Wenn wir noch in der Welt leben würden, in der ich selbst aufgewachsen bin, könnte ich mit vielleicht vorstellen, ein Kind zu bekommen, ohne mir ständig Sorgen um die Zukunft des Planeten machen zu müssen,“ erklärt auch die 27-jährige Lehrerin Zelda Hogrel. Sie liebe Kinder, betont sie: „Ich arbeite in Ferienlagern mit Kindern zusammen, aber ich habe nicht das Bedürfnis, ein eigenes zu bekommen.“

Nie nach Ende des Zweiten Weltkriegs war die Geburtenrate in Frankreich so niedrig wie heute. Präsident Macron ruft daher zur „demografischen Aufrüstung“ auf. Für ihn ist die niedrige Geburtenrate ein Übel, das die Nation vereint angehen müsse. Seine patriarchale Aufforderung, Familien zu gründen, hat jedoch viele Frauen verärgert.

Wir alle wissen, dass gerade mit der Geburt eines Kindes die Ungleichheiten [zwischen Frauen und Männern] zum Vorschein kommen.

Léa Marco, 29-jährige Französin, hat kein dringendes Bedürfnis ein Kind zu bekommen.

„Als Lehrerin habe ich durchaus das Gefühl, meine gesellschaftliche Pflicht zu erfüllen. Ich persönlich werde Frankreich jedenfalls nicht „aufrüsten“,“ so Léa Marco. „Wir alle wissen, dass gerade mit der Geburt eines Kindes die Ungleichheiten [zwischen Frauen und Männern] zum Vorschein kommen. Frauen müssen an alles denken, sich um ihr Baby und ihren Partner kümmern. Darüber hinaus ist der Druck, ein „gutes Elternteil“ zu sein, heute viel stärker als noch vor ein paar Jahrzehnten. Es wird erwartet, dass man sich voll und ganz für sein Kind engagiert und aufopfert.“

Sie sei der Ansicht, es gebe viele andere Möglichkeiten, Teil einer Familie zu sein, als in einer heterosexuellen Paarbeziehung Kinder zu bekommen. Ihre Freundin Zelda Hogrel sagt dazu: „In den letzten vier Jahren habe ich ein Pflegekind mit in den Urlaub genommen, und ich habe sogar überlegt, es zu adoptieren, als es Probleme mit seiner Mutter hatte.“ Für sie ist klar: „In die Ausbildung eines Kindes, das man liebt, zu investieren, ist auch etwas, das sehr viel Sinn ergibt.“

Nelly Didelot arbeitet im Auslandsressort von Libération in Paris. Sie befasst sich mit Mittel- und Osteuropa sowie mit Umweltthemen.

Zahl der Woche: 11 Millionen

Die Anzahl der finanziellen Vergünstigungen für Familien in Ungarn sucht ihresgleichen. Ehepaare mit Frauen unter 30 Jahren haben beispielsweise Anspruch auf ein zinsloses Darlehen in Höhe von bis zu elf Millionen Forint (ca. 30.000 Euro), das sie nicht zurückzahlen müssen, wenn sie drei Kinder zur Welt bringen. Familien mit Kindern können auch ein zinsverbilligtes Darlehen von bis zu 50 Millionen Forint (130.000 Euro) aufnehmen, um ein Haus zu kaufen.

2023
gab es einen historischen Tiefstand bei den Geburten in Ungarn.

Das Problem dabei: Der offensichtliche Plan der Regierung funktioniert nicht. 2023 gab es einen historischen Tiefstand bei den Geburten in Ungarn.

Es scheint, dass ungarische Paare gute Schulen, eine angemessene Gesundheitsversorgung und faire Löhne den Geldgeschenken fürs Kinderkriegen vorziehen würden. Bisher scheint die Regierung in Budapest all dies aber nicht anbieten zu wollen.

Viktoria Serdült ist Journalistin beim Nachrichtenportal hvg.hu aus Budapest. Sie befasst sich mit der ungarischen Innen- und Außenpolitik, der Europäischen Union sowie sozialpolitischen Themen.

Traue keiner Statistik…

Ich bin seit 16 Jahren journalistisch in Nordmazedonien tätig. Mindestens zehn Jahre lang wurde meine Arbeit durch veraltete und schlicht falsche offizielle Daten erschwert.

Bis 2022, als endlich eine überfällige Volkszählung durchgeführt wurde, konnte mir nicht einmal der Leiter des Nationalen Statistikamtes die genaue Bevölkerungszahl nennen. Offiziell waren es 2,1 Millionen – aber diese Zahl stammte aus dem Jahr 2002. Eine geplante Volkszählung im Jahr 2011 wurde abgebrochen.

In den meisten Ländern finden solche Zählungen im Abstand von zehn Jahren statt. Hier in Nordmazedonien wirft ein solcher Prozess jedoch heikle ethnische Fragen über die Größe der albanischen Community im Vergleich zur mazedonischen Mehrheit auf.

Die mazedonischen Nationalisten hoffen dabei stets auf ein Ergebnis, das zeigt, dass die Albaner weniger als 20 Prozent der Bevölkerung des Landes ausmachen. Dies ist der Schwellenwert, ab dem den Albanern gemäß dem Abkommen von 2001 bestimmte Rechte zustehen. Die albanische Seite wünscht erwartungsgemäß das Gegenteil und drängt darauf, auch Albanerinnen und Albaner in der Diaspora in die nordmazedonische Volkszählung einzubeziehen.

Im Jahr 2011 wurde die Volkszählung mitten im Prozess abgebrochen, weil man erkannte, dass die Nationalisten auf beiden Seiten die Zahlen vermutlich so stark manipuliert und verfälscht hatten, dass die Ergebnisse schlicht nicht mehr glaubwürdig sein würden.

Für uns folgten daher weitere zehn Jahre ohne verlässliche Zahlen – und in diesem Zuge schlechte oder falsche politische Entscheidungen, basierend auf den veralteten Statistiken. Für mich als Journalist bedeutete es: Wann immer ich über die Geburten- oder Sterblichkeitsrate, das Bruttoinlandsprodukt, die Wirtschafts- oder Sozialpolitik oder die Migration schrieb, musste ich (wie jeder andere auch) das wahre Bild schätzen oder gar raten.

1,8
Millionen Einwohnerinnen und Einwohner zählt Nordmazedonien nur noch. In den zwei Jahrzehnten seit 2002 hat das Land neun Prozent seiner Bevölkerung verloren.

Nun haben wir also aktuelle Daten. Nordmazedonien hat in den zwei Jahrzehnten seit 2002 neun Prozent seiner Bevölkerung verloren und zählt nur noch 1,8 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Laut Prognosen wird die Bevölkerung bis 2050 aufgrund von Abwanderung und niedriger Geburtenrate auf 1,4 Millionen sinken.

Das ethnische Verhältnis hat sich dabei nicht wesentlich verändert. Man könnte sagen: Offenbar wollen alle gleichermaßen wegziehen.

Letztendlich hat das ethnische Gezanke den gesamten Prozess diskreditiert, und viele trauen auch den neuen Daten nicht so recht. Angesichts der Politisierung der ethnischen Zusammensetzung unserer Bevölkerung haben wir vergessen, warum Volkszählungen überhaupt sinnvoll sein können.

Siniša-Jakov Marusic ist Journalist in Skopje. Er schreibt für Balkan Insight, vor allem über Rechtsfragen in der Balkan-Region.

Polens Parteien wollen keine „erzwungene Solidarität“

„Ich bin seit Jahren gegen die so genannte „Zwangssolidarität“, auch schon, als ich noch Vorsitzender des Europäischen Rates war,“ erinnerte Donald Tusk zu Beginn dieses Jahres. Damit machte der seit vergangenem Dezember amtierende polnische Ministerpräsident deutlich, dass er die gleiche restriktive Migrationspolitik vertritt wie die Vorgängerregierung unter Leitung der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit.

Mit der „erzwungenen Solidarität“ verweist Tusk auf das EU-Asylabkommen, nach dem alle Mitgliedstaaten verpflichtet sind, Asylbewerber aufzunehmen – oder alternativ Geldstrafen zu zahlen.

Die beiden größten Parteien Polens sind eindeutig gegen dieses Migrationsabkommen. Auch die Mehrheit der polnischen Bevölkerung spricht sich gegen Einwanderung aus. Gleichzeitig hat Polen in den vergangene Jahren aufgrund des Arbeitskräftemangels hunderttausende Ausländer aus teils sehr fernen Ländern angeworben.

Im Zuge dessen wurde auch ein Visaskandal bekannt, der derzeit vom polnischen Parlament untersucht wird: Ex-Regierungsmitglieder werden verdächtigt, Bestechungsgelder angenommen zu haben, um Migranten aus Afrika und Asien einen leichteren Zugang zu Visa zu ermöglichen.

Michał Kokot arbeitet im Auslandsressort der Gazeta Wyborcza und befasst sich dort mit Politik und Gesellschaft Mitteleuropas.

Fernab von 44 Millionen?

„Was ist cooler als eine Familie mit 44 Millionen Mitgliedern?“, heißt es in einem Mural in der Kiewer Innenstadt. Die 44 Millionen spielen auf die geschätzte Einwohnerzahl der Ukraine vor der russischen Invasion an; mit dem Wandbild wird für die nationale Einheit geworben. Zwar würden viele Ukrainerinnen und Ukrainer die Frage auch heute noch mit „nichts“ beantworten, doch ist die Zahl wohl nicht (mehr) korrekt – und dürfte dies auch nicht mehr werden.

In den fast zwei Jahren Krieg haben rund sechs Millionen Menschen das Land verlassen. Bereits vor der Invasion hatten drei Millionen Ukrainer im Ausland gearbeitet, wo sie seitdem meist geblieben sind. Mit jedem neuen Tag verstärken sie ihre Bindungen an die Gastländer und verringern somit die Wahrscheinlichkeit, in die Heimat zurückzukehren.

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Millionen Menschen haben rund in den fast zwei Jahren Krieg in der Ukraine das Land verlassen.

Präsident Wolodymyr Selenskyj ist sich der negativen Auswirkungen der Bevölkerungsabwanderung bewusst. In seiner Neujahrsansprache, die traditionell als politische Grundsatzrede gilt, machte er das (eher umstrittene) Statement: „Ich wünsche allen, die noch zögern [ob sie zurückkehren sollen], dass sie im nächsten Jahr eine mutige Entscheidung treffen – nämlich, dass sie sich hier wiederfinden, denn hier ist der einzige Ort auf der Welt, an dem wir alle sagen können: Wir sind zu Hause.“

Viele werden diesem Wunsch vermutlich nicht nachkommen. Laut der ukrainischen Demografin Ella Libanowa werden die meisten derjenigen Ukrainer, die derzeit im Ausland leben, nie wieder zurückkehren. Dafür sprechen unter anderem historische Erfahrungswerte: Nach den Balkankriegen der 1990er Jahre kehrte ein Drittel der damals Geflüchteten nie wieder zurück (und die meisten dieser Kriege endeten in weniger als zwei Jahren).

Es sei außerdem nicht zu vernachlässigen, dass die ukrainischen Geflüchteten meist gut ausgebildet sind: „70 Prozent der weiblichen Flüchtlinge haben einen Hochschulabschluss. Glauben Sie etwa, dass man im alternden Europa nicht daran interessiert wäre, sie dort zu behalten? Das ist man definitiv!“, so Libanowa kürzlich in einer Rede.

Was also tun? Ein Nachkriegs-Babyboom ist kaum zu erwarten. Tatsächlich zeichnet sich schon seit den 1960er-Jahren ab, dass ukrainische Frauen immer weniger Kinder bekommen.

Der Schlüssel zum Ziel einer „Familie mit 44 Millionen Mitgliedern“ kann somit nur in Zuwanderung und Toleranz für andere liegen. Für die Ukraine bleibt zu hoffen, dass wirtschaftliches Wachstum das Land attraktiv für Menschen aus anderen Ländern und Kulturen macht. Die heutigen Ukrainerinnen und Ukrainer sollten diese möglichst freundlich willkommen heißen, meint Libanowa.

Anton Semischenko ist Redakteur bei der englischsprachigen Version der Nachrichten-Website babel.ua aus Kiew.


Danke, dass Sie die 61. Ausgabe von European Focus gelesen haben. 

Wir freuen uns immer über Ihre Gedanken und Rückmeldungen zum Newsletter!

Das gilt insbesondere, da wir uns dem (vorläufigen) Ende dieses Projekts nähern. Es folgen noch zwei Ausgaben; dann ist es Zeit für eine längere Pause. Wir hoffen, erneut EU-Fördermittel einwerben zu können – und melden uns dann voraussichtlich im Herbst wieder bei Ihnen.

Doch erst einmal heißt es wie immer: Bis nächste Woche! 

Teresa Roelcke

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

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