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European Focus #37: Die Skala der (Un-)Sicherheit

+++ Wach(sam) bleiben +++ Ein Handschlag, keine Folgen +++ Frankreichs Armee zieht gen Osten +++ Zahl der Woche: 4 +++ Die Enttäuschung optimistisch sehen +++

Hallo aus Berlin,

beim NATO-Gipfel in Vilnius ging es um Sicherheit, Einheit und Erweiterung. Schwerpunkt waren die Sicherheitslage Europas und der Ukraine sowie der Beitritt Schwedens. Es gab viele Handschläge (einer schaffte es sogar in die Schlagzeilen) und die Zusage einer zumindest verstärkten Unterstützung für die Ukraine. Einen definitiven Zeitplan für eine ukrainische NATO-Mitgliedschaft gab es indes nicht.

Als wir bei unserer Team-Besprechung in der vergangenen Woche über den Gipfel diskutierten, wurde deutlich, dass wir in unseren jeweiligen Ländern offenbar immer noch ein recht unterschiedliches Verhältnis zur Sicherheitspolitik haben.

In der Ukraine ist man seit Jahren überaus wachsam – offensichtlich zu Recht, wie nicht zuletzt der aktuelle Krieg zeigt. Die Ukrainer, beispielsweise ein Ex-Kollege unseres Journalisten in Kiew, haben ein quasi prophetisches Talent entwickelt. In Estland wächst ebenfalls das Gefühl einer gewissen Notwendigkeit, das eigene Leben und das Land verteidigen zu müssen.

Und in Deutschland? Unsere Bundesregierung hat in den vergangenen Monaten den nationalen Munitionsbestand zwar anscheinend verdoppelt, bleibt dabei im internationalen Vergleich aber auf einem weiterhin sehr niedrigen Niveau.

Teresa Roelcke, dieswöchige Chefredakteurin


Wach(sam) bleiben

Der Autor während seines Militärdienstes im Jahr 2010. Nach dreizehn Jahren ist es an der Zeit, die grüne Uniform wieder anzuziehen.
Der Autor während seines Militärdienstes im Jahr 2010. Nach dreizehn Jahren ist es an der Zeit, die grüne Uniform wieder anzuziehen.

© Foto: Herman Kelomees/privat

Es war etwa 4 Uhr morgens, als sich unsere Infanterieeinheit aus zehn Soldaten darauf vorbereitete, den vorbeiziehenden „Feind“ – eine andere Gruppe estnischer Wehrpflichtiger – aus dem Hinterhalt anzugreifen. Ebenso wie damals, im Jahr 2010, ist die Wehrpflicht in Estland für Männer obligatorisch.

Alle, die wir uns damals in dem feuchten und dunklen Wald versteckten, waren hundemüde. Das Militärtraining war hart; wir litten unter Schlafmangel und der Kälte. Ich wurde bei der Übung zum Dienst an einem Ksp 58 Maschinengewehr zugeteilt.

Ich tat mich mit Andres zusammen, einem Kameraden, der die 1,2 Meter lange und 12 Kilogramm schwere Waffe, die bis zu 16 (höllisch laute) Schüsse pro Sekunde abfeuert, mit Munitionsnachschub zu versorgen hatte.

Wir mussten wachsam bleiben, kämpften gegen die Müdigkeit an. Andres verlor diesen Kampf und schlief direkt neben dem Geschützrohr ein. Dann wurde ein lautloses Signal gegeben: Feuer frei!

Der arme Andres wurde recht unsanft durch das Dröhnen der Maschinengewehrschüsse (natürlich nur mit Platzpatronen) direkt neben ihm aus dem Schlaf gerissen. Er wachte praktisch mitten im Gefecht auf.

Zum Glück war dieser Kampf nicht echt – ebenso wie es damals unrealistisch erschien, dass es in unserem Europa einen Krieg geben könnte.

Ich dachte an diese Erfahrungen, als ich letzte Woche in Vilnius war, um über den NATO-Gipfel zu berichten. Eines der Hauptthemen für unsere Leser beim estnischen Nachrichtenportal Delfi waren die Verteidigungspläne für unsere Region.

Als Befehlshaber eines Infanteriezuges hätte ich diese Pläne zu befolgen, wenn es tatsächlich notwendig werden sollte, dass Reserveeinheiten für die Verteidigung Estlands kämpfen. Angesichts der Aggressivität Russlands wurden neue Reserveeinheiten zusammengezogen.

Es ist bereits 13 Jahre her, dass ich gedient habe, aber im September werde ich zu einem zehntägigen Pflicht-Training in die Wälder zurückkehren. Tausende andere werden ebenfalls dort sein. Auch dieses Mal werde ich mich bemühen, wachsam und wach zu sein – vielleicht noch mehr als vor 13 Jahren. Schließlich fühlt sich die Bedrohung heute viel realer an.

Herman Kelomees ist Journalist bei Delfi in Tallinn und berichtet hauptsächlich im Ressort Politik.


Ein Handschlag, keine Folgen

Ein Handschlag, keine Folgen.
Ein Handschlag, keine Folgen.

© Twitter

Als sich die Staats- und Regierungschefs der NATO auf ihrem jüngsten Gipfeltreffen in Vilnius zum „Familienfoto“ versammelten, fingen die Kameras einen für viele überraschenden Moment ein: Als US-Präsident Joe Biden die Bühne betrat, schüttelte er nur einem einzigen Regierungsführer die Hand: Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán.

In Anbetracht der nicht gerade rosigen Beziehungen zwischen den beiden Ländern spekulierten die meisten Kommentatoren, mit der Geste wolle Biden wohl Orbán für seine Bereitschaft danken, endlich Schwedens NATO-Beitritt zu unterstützen.

Am Ende des Gipfels wurde jedoch klar, dass der Händedruck nicht ausreichend war, um die Position Budapests zu ändern. Wie hochrangige Regierungsbeamte inzwischen einräumen, wartet Ungarn ab, dass die Türkei ihrerseits ihr Veto tatsächlich aufhebt. Ein Termin für die endgültige Abstimmung im ungarischen Parlament, die notwendig wäre, um Orbáns Versprechen einzulösen, steht dementsprechend noch nicht fest.

Orbán machte in einem Interview außerdem deutlich, dass seine Ansichten über Washington unverändert sind: Wenn Amerika Frieden in der Ukraine wolle, könne dieser umgehend erzielt werden. Da man im Westen aber an einer Fortführung des Konflikts interessiert sei, werde dieser auch weitergehen.

Viktoria Serdült ist Journalistin beim Nachrichtenportal hvg.hu aus Budapest. Sie befasst sich mit der ungarischen Innen- und Außenpolitik, der Europäischen Union sowie sozialpolitischen Themen.


Frankreichs Armee zieht gen Osten

Taktisches Transportflugzeug C-160 Transall der französischen Luftwaffe auf der Landebahn Madama in Niger, einem der afrikanischen Länder, in denen die französische Armee noch aktiv ist.
Taktisches Transportflugzeug C-160 Transall der französischen Luftwaffe auf der Landebahn Madama in Niger, einem der afrikanischen Länder, in denen die französische Armee noch aktiv ist.

© Foto: Philippe Chapleau.

Für französische Soldaten und Offiziere ist ihr aktueller Einsatz in Rumänien (seit 2022) eine Art Lehrzeit innerhalb der NATO. Das mag überraschen, wenn man bedenkt, dass die französische Armee die drittgrößte in der NATO ist. Frankreich hat jedoch im Laufe der vergangenen Jahrzehnte eine komplizierte Beziehung zu dem Bündnis gepflegt.

Im Jahr 1966 zog Charles de Gaulle das Land aus dem sogenannten gemeinsamen Kommando zurück. Gut 50 Jahre später erklärte Emmanuel Macron 2019 die Organisation für „hirntot“. Seit der russischen Invasion in der Ukraine hat sich Paris nun aber wieder stärker engagiert und Truppen nach Rumänien entsandt, um „die Verteidigungs- und Abschreckungsposition der NATO zu stärken“ sowie „den Schutz der Ostflanke Europas zu festigen“, wie es seitens des französischen Verteidigungsministeriums heißt.

Die Aigle-Mission, die Teil der schnellen Eingreiftruppe (Rapid Reaction Force) ist, umfasst derzeit rund 1.000 französische Soldaten. Sie arbeiten mit belgischen, niederländischen, rumänischen und US-Soldaten in Constanța an der rumänischen Schwarzmeerküste zusammen.

Für die französische Armee, die in den letzten Jahren eher daran gewöhnt war, in der Wüste zu operieren und dort gegen terroristische Gruppen vorzugehen, ist dies eine große Umstellung. Im Osten arbeitet sie in einer gemeinsamen Allianz, um als Abschreckung gegen Russland zu wirken.

Tatsächlich wäre der rumänische Luftwaffenstützpunkt Mihail Kogalniceanu für eine feindliche Rakete nur sieben Flugminuten von der besetzten Krim entfernt. Sollte Moskau seine Aggression weiter gen Westen treiben, wäre die Aigle-Mission die erste Verteidigungslinie der NATO. Jetzt müssen die französischen Soldaten lernen, wie sie die verschiedenen Ausrüstungen miteinander kombinieren können, die Strategien und Taktiken ihrer Verbündeten kennenlernen und die Zusammenarbeit verbessern.

Die französische Armee muss sich auch an andere Einsatzbedingungen gewöhnen. Ihre Leclerc-Panzer mussten auf Umwegen per Bahn angeliefert werden, da Deutschland die Durchquerung seines Territoriums mit solch riesigen Panzern nicht erlaubt. Außerdem muss dieses militärische Material im Winter mit heißer Luft aufgewärmt werden, um die elektronischen Systeme zu schützen.

Die Aigle-Mission soll indes weiter wachsen: Im Jahr 2025 wird sie voraussichtlich 6.000 Soldaten umfassen – und damit der größte Auslandseinsatz der französischen Streitkräfte sein.

Nelly Didelot arbeitet im Auslandsressort von Libération in Paris. Sie befasst sich mit Mittel- und Osteuropa sowie mit Umweltthemen.


Zahl der Woche: 4

Zahl der Woche: 4
Zahl der Woche: 4

© Farangies Ghafoor

Was ist eine Allianz wert, wenn diese ihre Aufgabe nicht erfüllen kann? Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich jedenfalls entschieden, den deutschen Beitrag zur NATO zu erhöhen. Im vergangenen Jahr versprach er, Deutschland werde in Zukunft die größte konventionelle Armee unter den europäischen Staaten der Allianz stellen.

Allerdings schätzten Fachleute noch vor ein wenigen Monaten, mit seinen Munitionsbeständen könnte Deutschland sich nur zwei Tage lang verteidigen. Dies hat sich offenbar geändert, wie unsere estnischen Kollegen berichten.

Nach aktuellem Stand könnte Deutschland sich demnach ganze vier Tage lang verteidigen. Das sind 26 weniger als von der NATO gefordert. In Berlin versichert man den Bündnispartnern weiterhin, man werde die Vorräte aufstocken – und gleichzeitig die Ukraine mit Lieferungen unterstützen.

Farangies Ghafoor ist Datenjournalistin und berichtet für den Tagesspiegel über Gesundheits- und Lifestyle-Themen.


Die Enttäuschung optimistisch sehen

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi bezeichnete die Ergebnisse des jüngsten NATO-Gipfels als „gut, aber nicht perfekt“.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi bezeichnete die Ergebnisse des jüngsten NATO-Gipfels als „gut, aber nicht perfekt“.

© Getty Images / Babel

Aus Sicht der Ukraine kann der NATO-Gipfel von Vilnius kaum als etwas anderes als eine Enttäuschung gewertet werden. Die Älteren unter uns haben sich wahrscheinlich gedacht: „Das hatten wir doch schon einmal.“

Im Jahr 2008 erhielt die Ukraine auf einem NATO-Gipfel eine vage Antwort auf ihre Beitrittswünsche. Sie lässt sich zusammenfassen als: „Ihr seid auf jeden Fall willkommen – irgendwann in der Zukunft.“

Diese Position verärgerte einen Mann einerseits und bestärkte ihn andererseits in seiner Ansicht, die Ukraine und andere ehemalige Sowjet- und Ostblockstaaten unter Kontrolle halten zu müssen: Wladimir Putin. Ihm war klar, dass er „irgendwann in der Zukunft“ seinen Einfluss auf diese Länder verlieren könnte.

So erkannte der russische Präsident, dass die Zeit zum Handeln lieber früher als später kommen sollte. Er begann, den Westen zu testen: Vier Monate nach dem NATO-Gipfel 2008 marschierte Russland in Georgien ein. Dieser kurze Krieg zeigte, dass militärische Invasionen in Europa nach wie vor möglich sind – und dass man sie ungestraft führen kann.

„Es ist furchtbar, wenn man darüber nachdenkt,“ sagte mein damaliger Redakteurskollege bei einer ukrainischen Tageszeitung. „Wer ist als nächstes dran? Das können doch nur wir sein.“

Er behielt mit dieser Prophezeiung Recht. Sechs Jahre später startete Putin seinen Krieg gegen die Ukraine.

Die Geschichte scheint sich zu wiederholen: Die NATO ist immer noch unentschlossen. Das ist allerdings verständlich. Die Allianz müsste, wenn sie die Ukraine jetzt aufnehmen würde, ihr Grundprinzip der Verteidigung eines angegriffenen Bündnispartners aufgeben.

Denn zu viele NATO-Staaten lehnen die Entsendung von Truppen in die Ukraine ab. Uneinigkeit oder gar Spaltung in dieser Frage würde die Zukunft des Bündnisses untergraben. Und: Wenn die NATO trotzdem einen konkreten Plan für die Mitgliedschaft der Ukraine vorlegen würde, wüsste Putin, wie er dessen tatsächliche Umsetzung unmöglich machen könnte.

Mich stimmt die Enttäuschung des jüngsten Gipfels dennoch optimistisch: Wenn es keinen festen Plan gibt, kann die Ukraine theoretisch jederzeit der NATO beitreten. Das schwächt auch Putins Lage. Er bekommt die Botschaft: Wenn du schwach genug bist, wird die Ukraine (wahrscheinlich) der NATO beitreten. Und Putin scheint schwächer zu werden.

Anton Semischenko ist Redakteur bei der englischsprachigen Version der Nachrichten-Website babel.ua aus Kiew.


Danke, dass Sie die 39. Ausgabe von European Focus gelesen haben.

Wie schätzen Sie die Sicherheit Ihres Landes in Europa ein? Und was trägt es selbst dazu bei? Wie stehen Sie zur NATO? Schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an info@europeanfocus.eu.

Bis nächste Woche!

Teresa Roelcke

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

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