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European Focus #36: Polizeigewalt in Europa

+++ Was ist los mit Frankreichs Polizei? +++ Psychologie der Polizeigewalt +++ Rechtspopulisten reiben sich die Hände +++ Zahl der Woche: 8 +++ Vom Polizistenmord zum Regierungssturz +++

Hallo aus Skopje,

als ich ein Kind war, hatte ich das klassische Bild vom netten Polizisten von nebenan: einer von uns, einer von „den Guten“, mein Freund und Helfer, der mich nach Hause bringen konnte, wenn ich mich verlaufe oder der mich beschützt, wenn ich gemobbt werde.

Ich frage mich, ob der 17-jährige Nahel, der kürzlich in Paris von der Polizei erschossen wurde, jemals ein ähnlich verklärtes Bild von Polizeibeamten hatte. Waren sie für ihn Freund und Helfer? Oder doch eher Menschen, denen man möglichst aus dem Weg geht?

Infolge von Nahels Tod kam es in Frankreich zu heftigen Ausschreitungen. Zeitgleich gibt es in der Ukraine ein Graffiti, dessen Botschaft mich verstört, aber auch zum Nachdenken anregt: „Wen rufst du an, wenn die Polizei mordet?“.

Kurz gesagt: Ich weiß es nicht. Was ich hingegen weiß, ist, dass die Polizeigewalt in Frankreich kein Ausnahmephänomen ist, sondern an vielen anderen Orten in Europa ebenfalls beobachtet werden kann. Sie ist eines der Symptome von Hass, Xenophobie und Diskriminierung.

Sinisa Jakov Marusic, dieswöchiger Chefredakteur


Was ist los mit Frankreichs Polizei? 

Polizeikräfte stehen Jugendlichen während Ausschreitungen in Nanterre, außerhalb von Paris, gegenüber.
Polizeikräfte stehen Jugendlichen während Ausschreitungen in Nanterre, außerhalb von Paris, gegenüber.

© dpa/Christophe Ena

In Sachen Polizeiarbeit und Sicherheit ist Frankreich eine „Anomalie“. Das ist jedenfalls die Schlussfolgerung mehrerer Fachleute, die sich mit damit auseinandergesetzt haben, warum es in den vergangenen Jahren immer mehr tödliche Schüsse seitens der französischen Polizei gegeben hat. Das Thema wurde wieder brandaktuell, als in einem Pariser Vorort am 27. Juni der 17-jährige Nahel erschossen wurde, nachdem er angesichts einer Polizeikontrolle nicht gestoppt hatte.

Es ist kein Einzelfall. Die französische Polizei hat seit Anfang 2022 mindestens 15 Menschen getötet, weil diese der Aufforderung zum Anhalten nicht nachgekommen sind. Das ist deutlich mehr als in den benachbarten europäischen Staaten. Laut dem französischen Polizeiforscher Sébastian Roché gab es in Deutschland in zehn Jahren nur einen einzigen tödlichen Schuss auf ein fahrendes Fahrzeug.

Rochés Daten zeigen, dass Polizei und Gendarmerie in Frankreich zwischen 2011 und 2020 fast 50 Prozent mehr Menschen getötet haben als die deutsche Polizei und sogar mehr als dreieinhalbmal so viele wie die britische. Das Opfer ist in der Regel ein Mann unter 27 Jahren mit einem afrikanisch/nordafrikanisch klingenden Namen, der in einem Arbeiterviertel in der Peripherie der Großstädte lebt.

Es gibt mehrere denkbare Gründe für diese „französische Anomalie“. Forscher und Abgeordnete verweisen oft auf eine Gesetzesreform im Jahr 2017, die den Gebrauch von Schusswaffen durch Polizeibeamte deutlich erleichterte und laut einer Studie offenbar zu einem fünffachen Anstieg der Tötungen von Menschen in fahrenden Fahrzeugen im Vergleich zu 2012-2016 geführt hat. In der Studie werden auch „Qualitätsmängel“ bei Bewerbern für die Polizistenlaufbahn festgestellt. Aktuell werde fast jeder fünfte Bewerber in den Polizeidienst aufgenommen, während es vor zehn Jahren lediglich einer von fünfzig war.

In jedem Fall hat die Häufung tödlicher Schüsse seitens der Polizei schwerwiegende soziale Folgen. Sie drohen die Kluft zu vertiefen, die die französische Gesellschaft bereits heute in zwei rivalisierende Lager spaltet: diejenigen, die Law and Order über alles stellen, und diejenigen, die insbesondere den Rassismus und die Diskriminierung anprangern, die sie hinter den von der Polizei verschuldeten Todesfällen sehen.

Léa Masseguin ist Journalistin in der Auslandsredaktion der französischen Zeitung Libération aus Paris.


Psychologie der Polizeigewalt

Paul Hirschfield
Paul Hirschfield

© privat

Forschende in den USA verfügen über mehr Fachwissen zum Thema Polizeigewalt und deren psychologische Ursachen als ihre europäischen Kollegen. Paul Hirschfield ist Professor für Soziologie an der Rutgers University und beschäftigt sich dort mit Polizeigewalt und Rechenschaftspflicht der Polizei.

Gibt es einen spezifischen psychologischen Aspekt, der Polizeigewalt erklären könnte?

Polizeigewalt lässt sich oft durch gruppenpsychologische Faktoren erklären. Gewalt ist außerdem eine in diesem Beruf erlernte Verhaltensweise. Im Kontext der Polizeiarbeit wird sie in unterschiedlichen Situationen erzwungen, gefördert oder möglich gemacht.

Viele Aspekte der polizeilichen Tätigkeit erinnern an eine „Wir gegen die anderen“-Mentalität. Erstens ist die Polizei eine abgeschottete, paramilitärische Organisation. Ihre Leistung wird oft an der Befolgung von festgelegten Verfahren sowie internen Anreizen gemessen, von denen die Öffentlichkeit kaum Kenntnis hat.

Auf der anderen Seite haben Polizistinnen und Polizisten oft das Gefühl, dass die Öffentlichkeit, insbesondere die lautstarken Kritiker, die Polizeiarbeit einfach nicht versteht.

Die alltägliche Realität unrealistischer oder unklarer Richtlinien, die unweigerlich zu polizeilichem Fehlverhalten führen, fördert in Verbindung mit der genauen Kontrolle von außen eine Kultur der Teamarbeit und internen Solidarität. Das macht die Beamten allerdings auch anfälliger dafür, Fehlverhalten der Kollegen zu decken.

Wie kann man dem präventiv begegnen?

Wenn es um die Polizeiarbeit gegenüber benachteiligten Communities geht, kann es hilfreich sein, die angesprochenen strikten Grenzen zwischen der Polizei und der allgemeinen Öffentlichkeit aufzuweichen. Es braucht also mehr Transparenz.

Die besagte isoliert-paramilitärische Struktur mag für gewisse Zwecke nützlich sein – zum Beispiel zur Bekämpfung von Korruption im Polizeiapparat und zur Stärkung der internen Rechenschaftspflicht – aber sie trägt wenig dazu bei, Empathie über kulturelle Barrieren hinweg zu fördern und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Polizei zu stärken.

Wie könnte man diese Entfremdung (und in diesem Zusammenhang auch die Polizeigewalt) Ihrer Meinung nach am besten eindämmen?

Das braucht vor allem Zeit und erhebliche Veränderungen innerhalb der zentralisierten Polizeibehörden. Der bevorzugte Ansatz ist der skandinavische: Die lange Ausbildung (beispielsweise drei Jahre in Finnland, im Gegensatz zur sehr kurzen Ausbildungsdauer in den USA) an den stark selektiven nationalen Polizeischulen bietet die Möglichkeit, in den Polizistinnen und Polizisten ein Gefühl von staatlicher Verantwortung und Gleichberechtigung gegenüber der Bevölkerung zu entwickeln.

Hinzu kommt, dass alternative Ansätze zur Gewalt über einen längeren Zeitraum antrainiert werden. Ich glaube in diesem Zusammenhang auch nicht an Zufall, dass es gerade in Frankreich, wo das Thema Polizeigewalt und Konflikte mit bestimmten Bevölkerungsgruppen so präsent ist, eine relativ kurze Ausbildung von durchschnittlich nur neun Monaten für Polizeibeamte gibt.

Alicia Alamillos ist Journalistin mit Fokus auf internationale Nachrichten bei El Confidencial aus Madrid.


Rechtspopulisten reiben sich die Hände

„Unser Plan ist ein Europa der sicheren Grenzen - Sicherheit und öffentliche Ordnung - das sind die Werte, von denen alles andere ausgeht!“
„Unser Plan ist ein Europa der sicheren Grenzen - Sicherheit und öffentliche Ordnung - das sind die Werte, von denen alles andere ausgeht!“

© Twitter

Nanterre und Marseille am 28. Juni: Brennende Autos, geplünderte Geschäfte. Krakau am 28. Juni: Frauen spazieren durch die sonnendurchflutete Stadt. Welche Botschaft Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki mit seinem auf Twitter geteilten Video übermitteln wollte, ist klar.

Er ist nicht der einzige populistische Führer, der aus den Ereignissen in Frankreich Kapital schlagen will. Auf Facebook behauptete der ungarische Außenminister Péter Szijjártó, der wie sein polnischer Amtskollege ein Anti-Migrations-Hardliner ist: „Die Unruhen in Frankreich beweisen, dass es schlicht unmöglich ist, gewalttätige Massen illegaler Migranten aus anderen Kulturen zu integrieren.“

Die Äußerungen aus den Führungsriegen Polens und Ungarns sind für sie nicht nur innenpolitisch wichtig, sondern richten sich auch an die Europäische Union. Denn während die EU weiter über ihren neuen Migrationspakt debattiert, der unter anderem freiwillige Umsiedlung und unionweite Solidarität vorsieht, haben die beiden mittelosteuropäischen Länder deutlich gemacht, dass sie bereit sind, sich gegen den Vorschlag zu wehren, der ihnen ihrer Meinung nach „aufgezwungen“ wird.

Schon in der Vergangenheit haben die beiden Länder ihr Vetorecht als Erpressungsmittel eingesetzt Es ist nicht davon auszugehen, dass es sich hier um einen Fall von „Große Worte, nichts dahinter“ handelt.

Viktoria Serdült ist Journalistin beim Nachrichtenportal hvg.hu aus Budapest. Sie befasst sich mit der ungarischen Innen- und Außenpolitik, der Europäischen Union sowie sozialpolitischen Themen.


Zahl der Woche: 8

Zahl der Woche: 8
Zahl der Woche: 8

© privat

Bereits acht Mal haben Mitarbeitende der Kiewer Stadtverwaltung einen Teil eines Graffitis übermalt, während danebenstehende Slogans und Bilder unangetastet blieben. In dem Schriftzug wird auf Ukrainisch gefragt: „Wen rufst du an, wenn die Polizei mordet?“.

Das Graffiti tauchte erstmals am 16. September 2019 auf. Damals gab es zahlreiche Berichte über ungestrafte Polizeigewalt. Die Frage wurde nach dem Überpinseln immer wieder von Aktivisten erneuert und findet sich inzwischen auch in anderen ukrainischen Großstädten wieder.

Als die russische Invasion begann, verbesserte sich der Ruf der ukrainischen Polizei drastisch. Kein Wunder: viele Polizisten stehen an vorderster Front, verteidigen ihr Land und opfern ihr Leben. Dennoch bleibt das Problem ungestrafter Polizeigewalt bestehen und muss angegangen werden.

Anton Semischenko ist Redakteur bei der englischsprachigen Version der Nachrichten-Website babel.ua aus Kiew.


Vom Polizistenmord zum Regierungssturz

Menschen versammelten sich 2016 im Zentrum von Skopje, um den fünften Jahrestag der brutalen Ermordung von Martin Neshkovski durch einen Polizeibeamten zu begehen.
Menschen versammelten sich 2016 im Zentrum von Skopje, um den fünften Jahrestag der brutalen Ermordung von Martin Neshkovski durch einen Polizeibeamten zu begehen.

© BIRN

Wenn ich über die aktuellen Geschehnisse in Frankreich lese, fühle ich mich manchmal an mein eigenes Land erinnert: Im Juni 2011 freute sich der mazedonische Premierminister Nikola Gruevski über einen weiteren Wahlsieg. Er wusste nicht, dass damals der politische Niedergang seines autoritär geführten Regimes begann. 

Auf der Wahlparty seiner Partei in Skopje tötete ein Polizist brutal den 22-jährigen Martin Neskovski – der ironischerweise dort war, um Gruevskis Sieg zu feiern.

Zunächst verschwieg die Polizei die Einzelheiten, aber die Nachricht verbreitete sich in den sozialen Netzwerken wie ein Lauffeuer. Hunderte junge Menschen begannen gegen die versuchte Vertuschung zu protestieren und forderten „Gerechtigkeit für Martin“. Zum Ende des Sommers waren jeden Tag Tausende auf der Straße.

Die Behörden mussten letztendlich den Mord einräumen und nahmen den Polizeibeamten fest, der des Verbrechens verdächtigt wurde. Er jedoch betonte, an diesem Tag überhaupt nicht im Dienst gewesen zu sein. Letztendlich wurde niemand zur Verantwortung gezogen.

Und doch war nichts mehr so, wie es vorher war. Zuvor hatte sich nur die (schwache) Opposition über Polizeigewalt und Vertuschungen beschwert. Doch nach dem Mord an Martin begann sich Gruevskis fester Griff um die Macht zu lockern.

Der seit 2006 regierende Gruevski wurde schließlich 2017 abgesetzt. Es waren einfach zu viele Tropfen, die das Fass zum Überlaufen brachten. Im Jahr 2014 protestierten aufgrund einer vorgeschlagenen Änderung des Bildungsgesetzes Zehntausende in Skopje und forderten Gruevski auf, sich nicht mehr in die Grundschulen und Universitäten einzumischen.

Im Jahr 2015 setzte eine weitere Protestwelle ein, nachdem die Opposition eine Reihe von geleakten Abhörprotokollen der Geheimpolizei veröffentlicht hatte, die Korruption in Gruevskis Führungsclique aufzeigten. Darunter fanden sich erneute Beweise dafür, dass die Behörden die Umstände für den Mord an Neskovski vertuschen wollten.

Die sogenannte „Bunte Revolution“ setzte ein und ging weiter, bis die Regierung Gruevski tatsächlich im Jahr 2017 abgelöst wurde.

Ich war damals dabei. Ich beobachtete die Proteste, spürte ihre Energie und Kraft und merkte, wie sehr die Forderung „Gerechtigkeit für Martin“ immer noch Teil dessen war.

Nach den Protesten wurde in der Politik allerdings schon bald wieder zum „Business as usual“ übergegangen. Heute erreichen uns Journalisten immer wieder Hinweise, dass Polizeigewalt in Nordmazedonien weiterhin ein Problem ist. Kann sich Geschichte wiederholen?

Emilija Petreska ist Journalistin des Balkan Investigative Reporting Network in Skopje. Sie befasst sich mit Bildungs-, Umwelt- und sozialpolitischen Themen.


Danke, dass Sie die 38. Ausgabe von European Focus gelesen haben.

Haben Sie als Kind auch Räuber und Gendarm gespielt? Bei mir und meinen Freunden wollte niemand der Räuber sein.

Wir pickten uns deswegen das schwächste Kind in unserer Truppe heraus und machten ihn zum Räuber. Dann konnten wir ihn zu Boden ringen, seine Arme auf den Rücken drehen und ihn mit unseren Plastik-Handschellen fesseln. Wir liebten unsere Macht.

Was lässt sich aus diesem kindlichen Verhalten auf die Welt der Erwachsenen ableiten? Gibt es in unserer Gesellschaft nicht auch dieses schwache Kind, diese marginalisierte Gruppe, die man gerne als Sündenbock benutzt und (unfair) verfolgen und schikanieren kann?

Es ist ja nur ein Spiel. Aber aus Spiel kann Ernst werden.

Bis nächste Woche.

Sinisa Jakov Marusic

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

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