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2023-03-07, Deutschland, Berlin - Zentrale Streikkundgebung der Dienstleistungs-Gewerkschaft Verdi vor der Zentrale der kommunalen Berliner Stadtreinigung. Mit dabei Müllwerker aus Hamburg, Personal der Berliner städtischen Krankenhäuser, Ausubildende, der Berliner Wasserberiebe, Vertreter der Studierenden. Zentrale Forderung: 10,5 % Lohnplus oder 500 Euro mehr pro Monat! || Mindestpreis 25 Euro

© picture alliance / SZ Photo/Jürgen Heinrich

Warnstreiks nehmen zu: Sechs Gründe, warum deutliche Lohnerhöhungen nützlich sind

Die Lohnforderungen, denen Beschäftigte mit aktuellen Warnstreiks Nachdruck verleihen, sind nicht unangemessen. Auch der Mindestlohn darf nicht unantastbar sein.

Ein Gastbeitrag von Marcel Fratzscher

Viele Menschen sind besorgt angesichts der aktuell mitunter hohen Lohnforderungen von Gewerkschaften und den damit verbundenen Streiks und Unterbrechungen des täglichen Lebens. Die Gewerkschaft Verdi beispielsweise fordert 10,5 Prozent mehr Lohn für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst, also beispielsweise für Kita-Erzieher*innen und Busfahrer*innen.

Das scheint vielen überzogen und nicht wenige malen ein Bild des Schreckens, was es bedeuten könnte, wenn solche Lohnforderungen durchgesetzt würden. Aber wären deutliche Lohnsteigerungen wirklich schädlich für Wirtschaft und Gesellschaft in dieser Krise?

Fakt ist: Wenn man die Inflationsrate von knapp acht Prozent im Jahr 2022 und vermutlich von fünf bis sechs Prozent im Jahr 2023 berücksichtigt, dann würde eine Lohnerhöhung von 10,5 Prozent noch nicht einmal die Inflation ausgleichen. Vor diesem Hintergrund erscheinen Gewerkschaftsforderungen wie im Fall von Verdi erst einmal nicht unangemessen.

Doch die Kritiker*innen führen weitere Argumente ins Feld – etwa, dass so hohe Lohnforderungen die Arbeitgeber*innen überfordern und manchen nachhaltig schaden würden. Es gibt sicherlich einige Institutionen und Unternehmen im öffentlichen Dienst, die bei solchen Lohnerhöhungen in finanzielle Probleme geraten könnten.

Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass der Staat einer der großen Gewinner der Inflation ist. Denn höhere Preise bedeuten auch höhere Steuereinnahmen. Wieso also sollte der Staat nicht zumindest einen Teil dieser höheren Steuereinnahmen in Form besserer Löhne für seine Beschäftigten nutzen?

Manche Kritiker*innen sehen zudem eine sogenannte Lohn-Preis-Spirale auf Deutschland zukommen. Sie befürchten also, dass überzogene Lohnforderungen die Inflation dauerhaft erhöhen könnten und damit einen wirtschaftlichen Schaden anrichten. Eine solche Spirale ist jedoch derzeit nicht in Sicht. Gleichzeitig sind die Gewinne vieler, vor allem großer Unternehmen deutlich gestiegen. Wir müssen uns somit eher um eine Gewinn-Preis-Spirale Sorgen machen als um überzogene Lohnforderungen.

Es gibt zumindest sechs Gründe, weshalb deutliche Lohnerhöhungen in den kommenden Jahren nicht nur nicht schädlich, sondern sogar nützlich für Wirtschaft und Gesellschaft als Ganzes sein könnten. Die Erfahrungen aus anderen Ländern und auch die Einführung des Mindestlohns in Deutschland zeigen, dass Lohnerhöhungen die Mobilität der Beschäftigten deutlich erhöhen.

Wettbewerb erhöht die Beschäftigung

In anderen Worten: Mehr Beschäftigte wechseln den Arbeitsplatz, hin zu produktiveren Jobs. Für einzelne Unternehmen mag dies schädlich sein, aber für die Wirtschaft als Ganzes bedeutet es einen Gewinn.

Zum zweiten erhöhen deutliche Lohnsteigerungen in manchen Sektoren den Wettbewerb zwischen den Unternehmen. Das setzt Anreize für Unternehmen, mehr in ihre Beschäftigen zu investieren und sie produktiver zu machen.

Der dritte Vorteil eines solchen Wettbewerbs ist, dass er die Beschäftigung erhöht, da es sich für manche Menschen lohnt, Arbeit aufzunehmen oder die Arbeitszeit auszuweiten. Dies alleine wird das Fachkräfteproblem in Deutschland sicherlich nicht lösen, aber die Mobilisierung dieser stillen Reserve auf dem Arbeitsmarkt kann zumindest einen Beitrag dazu leisten.

Deutliche Lohnerhöhungen haben zudem noch drei weitere, indirekte Vorteile für Wirtschaft und Gesellschaft: Vor allem Lohnsteigerungen, die Menschen mit geringen Einkommen zu Gute kommen, erhöhen die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und können somit mittelfristig einen wichtigen Wachstumsimpuls setzen. Höhere Löhne für Menschen mit geringen Einkommen helfen zudem, die Sozialsysteme zu entlasten — denn weniger Menschen müssen aufstocken oder soziale Leistungen in Anspruch nehmen.

Zudem haben Lohnerhöhungen im öffentlichen Dienst eine wichtige Signalwirkung für andere Branchen. Auch solche Branchen, die nicht von Tarifverträgen abgedeckt sind, wären gezwungen, bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne für ihre Beschäftigten anzubieten, um diese nicht zu verlieren.

Auch wenn Studien zeigen, dass diese Mechanismen zu Lohnerhöhungen in vielen Branchen führen können, so ist es recht wahrscheinlich, dass die Ungleichheit bei Löhnen steigt. Denn es sind vor allem die Jobs im Niedriglohnbereich, die fast nie über Tarifverträge abgedeckt sind und in denen die Verhandlungsmacht der Beschäftigten gegenüber ihren Arbeitgeber*innen klein ist.

Daher wird in den kommenden Monaten unweigerlich die berechtigte Frage aufkommen, ob nicht auch der Mindestlohn weiter steigen muss, damit Menschen mit geringen Einkommen nicht nur besser gegen die hohe Inflation geschützt werden, sondern auch um eine steigende Lohnungleichheit zu verhindern. Zwar ist der Mindestlohn erst im vergangenen Jahr auf zwölf Euro erhöht worden, aber für viele der Betroffenen hat die Inflation diese Erhöhung bereits aufgefressen.

Streiks und Unterbrechungen des täglichen Lebens sind nie schön. Aber deutliche Lohner-höhungen für die große Mehrheit der Beschäftigten hätten für Wirtschaft und Gesellschaft als Ganzes deutlich mehr Vor- als Nachteile. Die Hoffnung ist, dass die Sozialpartner möglichst schnell eine kluge Lösung finden und sich darauf fokussieren, wie Lohnerhöhungen Investitionen in Beschäftigte und Produktivität verbessern helfen können.

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