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Eine Provokation mit Folgen: Die „neutrale“ Russin Anna Smirnowa bestand auf den Handschlag ihrer ukrainischen Gegnerin Olga Charlan.

© dpa/Tibor Illyes

Provokationen von „neutralen“ Russen: Die Lage für die ukrainischen Sportler wird immer komplizierter

Seit vergangener Woche dürfen ukrainische Nationalmannschaften wieder gegen Russen antreten, die unter neutraler Flagge starten. In der Praxis sorgt das für Probleme.

Der Beginn des russischen Angriffskriegs änderte auch das Leben und Arbeiten der ukrainischen Sportler grundlegend. Training und Wettkämpfe wurden aufgrund von Luftangriffen in weiten Teilen des Landes unmöglich, zudem wurden viele männliche Profisportler zwischen 18 und 60 Jahren vom Militär eingezogen.

Und selbst wenn die ukrainischen Sportler weiter zu Wettkämpfen im Ausland reisen dürfen, ist dort nichts mehr wie vorher. Eine besondere Herausforderung für die Sportler sind die Wettbewerbe, an denen Russen und Belarussen teilnehmen. Ein aktuelles Beispiel ist der Fall der ukrainischen Olympiasiegerin im Fechten, Olga Charlan.

Am vergangenen Mittwoch hatte das ukrainische Sportministerium den monatelangen Boykott internationaler Wettkämpfe, an denen Delegationen ukrainischer Nationalmannschaften gemeinsam mit unter neutraler Flagge antretenden Russen und Belarussen teilnehmen sollten, beendet. Die erste bekannte Sportlerin, die das betraf, war Charlan nur einen Tag später.

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Charlan traf bei den Weltmeisterschaften in Mailand auf die „neutrale“ Russin Anna Smirnowa, verweigerte ihr nach dem Sieg den Handschlag – und wurde zunächst disqualifiziert. Erst einen Tag später hob der Fecht-Weltverband die Disqualifikation wieder auf, ebenso die Handschlagregel.

Dies ist aber nicht der einzige Fall, seitdem Russen wieder unter neutraler Flagge gegen Ukrainer antreten dürfen. Russland hat durch die aufgeweichte Regelung, wie im Beispiel von Charlan, selbst wieder die Möglichkeit, für Provokationen zu sorgen.

Doch wie konnte es überhaupt so weit kommen? Und was folgt daraus?

Ende Februar 2022, kurz nach Beginn des russischen Einmarschs in die Ukraine, wurden russische und belarussische Athleten zunächst von internationalen Wettkämpfen ausgeschlossen.

Im Januar 2023 lud das Internationale Olympische Komitee (IOC) sie unter der Bedingung wieder ein, dass sie weder Krieg noch Doping unterstützen würden – und ging am 28. März dieses Jahres noch einen Schritt weiter: Da gab das IOC bekannt, dass russische und belarussische Athleten als neutrale Sportler antreten dürfen – wenn sie den Krieg nicht unterstützen.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie beginnen, die russische Aggression zu rechtfertigen.

Wolodymyr Selenskyj, ukrainischer Präsident

In Russland wurden diese Kriterien als „diskriminierend“ bezeichnet. Der Ukraine und eine Reihe anderer Länder ging die IOC-Entscheidung hingegen nicht weit genug. Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, schrieb deshalb sogar einen Brief an die Präsidenten führender internationaler Sportverbände, um für Unterstützung zu werben.

„Wenn russische Sportler an internationalen Wettkämpfen teilnehmen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie beginnen, die russische Aggression zu rechtfertigen und Terrorsymbole zu verwenden“, schrieb Selenskyj. „Und es ist auch nur eine Frage der Zeit, bis der Kreml beginnt, die bestehende prinzipienlose Flexibilität des Internationalen Olympischen Komitees zu nutzen, um zu sagen, dass die Welt bereit sei, dem Aggressor Zugeständnisse zu machen.“

Mehr als 35 Länder unterschrieben eine internationale Unterstützungserklärung für die Ukraine, in der sie forderten, dass Bürger Russlands und Weißrusslands nicht als „neutrale“ Sportler antreten dürfen.

Kein Athlet sollte allein aufgrund seines Reisepasses vom Wettkampf ausgeschlossen werden.

Internationales Olympisches Komitee

Das IOC entgegnete in einer Erklärung: „Regierungen sollten nicht entscheiden, welche Athleten antreten dürfen und welche nicht. Kein Athlet sollte allein aufgrund seines Reisepasses vom Wettkampf ausgeschlossen werden.“

Am 13. April dieses Jahres zog die ukrainische Regierung Konsequenzen und verbot offiziellen Delegationen von Nationalmannschaften die Teilnahme an internationalen Sportwettkämpfen mit Athleten aus Russland oder Belarus. Daraufhin mussten die ukrainischen Judo- und Taekwando-Teams ihre WM-Teilnahmen absagen. Einzelsportler sind davon nicht betroffen.

Kurz darauf wurde die Entscheidung allerdings wieder etwas aufgeweicht. Die ukrainische Fußballnationalmannschaft durfte an der Qualifikation für die Europameisterschaft teilnehmen, obwohl die belarussische Mannschaft dort teilnimmt – und zwar nicht einmal in neutralem Status. Das Ministerium entschied, dass das Verbot aufgehoben werden könne, solange die Nationalmannschaften nicht gegeneinander spielen würden – was in der Gruppenphase derzeit der Fall ist.

Daraufhin dauerte es bis zum 26. Juli, bis der Boykott ganz eingestellt wurde.

Blockierte Russland den besten ukrainischen Schachspieler?

In einem weiteren Fall stellte sich die Gemengelage noch komplexer dar. In diesem ging es um Wassyl Iwantschuk, der seit Jahrzehnten das Gesicht des ukrainischen Schachs ist. Nach Angaben des Schachweltverbands Fide erhielt Iwantschuk als Einzelsportler eine Wildcard zum World Cup in Aserbaidschan, bei dem die Teilnehmer seit Ende Juli drei Plätze für die Weltmeisterschaften ausspielen.

Der 54-jährige Schachspieler musste nach Kriegsregeln eine Sondergenehmigung des Ministeriums einholen, um das Land zu verlassen. In einer offiziellen Erklärung erklärte der ukrainische Sportminister Vadym Gutzeit, dass er kein Veto gegen Iwantschuks Teilnahme eingelegt habe.

Gemäß des Verfahrens musste der Internationale Schachverband zunächst einen Brief zur Prüfung der Ausreisegenehmigung an das Sportministerium der Ukraine senden. Dort kam jedoch kein solches Schreiben an.

Auf ukrainischer Seite wurde vermutet, dass dies damit zusammenhängt, dass der Fide-Präsident, Arkadi Wladimirowitsch Dworkowitsch, ein russischer Politiker und ehemaliger Berater des russischen Präsidenten Wladimir Putin ist. Gutzeit erklärte, dass der Vorgang mit Iwantschuk eine Provokation seitens Dworkowitschs sei.

Ein Brief mehrerer Schachstars, darunter die ehemaligen Weltmeister Magnus Carlsen und Viswanathan Anand, brachte Bewegung in die Sache. Zwei Tage vor Beginn des World Cups gab Iwantschuk schließlich bekannt, dass er doch noch die Erlaubnis zum Grenzübertritt erhalten habe.

„Der Exekutivdirektor des Schachverbandes der Ukraine, Yuriy Gnip, sagte mir, dass, wenn in einem Spiel mit einem russischen Spieler eine Situation auftritt, die Entscheidung entsprechend der Situation getroffen wird. Das Turnier wird schwierig, aber ich werde kämpfen“, sagte Iwantschuk. Er könnte frühestens in der fünften Runde auf einen Russen treffen – wenn beide ihre Spiele bis dahin gewinnen.

Eine einheitliche Lösung haben die Sportverbände noch nicht gefunden, Kompromisse sind allgegenwärtig. Etwas Klarheit gab es am vergangenen Donnerstag allerdings dann doch, ausgerechnet vom Internationalen Olympische Komitee. Das IOC lud offiziell 203 Länder zur Teilnahme an den Olympischen Spielen 2024 in Paris ein – und schloss Russland und Belarus wie erwartet zunächst aus.

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