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Obst und Gemüse sind bei den Tafeln in Deutschland derzeit Mangelware.

© dpa

Schlangen, Wartelisten, Aufnahmestopps: Chef der Tafel Deutschland schlägt Alarm

Die Inflation macht sich bei den Tafeln in Deutschland immer stärker bemerkbar. Rund ein Drittel musste wegen Überlastung einen Aufnahmestopp verhängen.

Die Schlange der Kundinnen und Kunden sei mancherorts so lang geworden, dass es für die Ehrenamtlichen kaum noch zu schaffen sei, alle mit Lebensmitteln zu versorgen, berichtet Petra Jung vom Landesverband der Tafeln in Nordrhein-Westfalen. Längst gehe es dort nicht mehr nur darum, Essen auszugeben: „Da fließen nicht selten Tränen. Manche Leute muss man schon mal in den Arm nehmen.“

Für viele Menschen sei der Tafelbesuch stigmatisierend, sagt Jung. „Vor allem ältere Menschen sind oft beschämt. Ich sage, es ist das Leben, was Kapriolen schlägt. Aber natürlich ist das kein fröhlicher Supermarktbesuch.“

Dass immer mehr Menschen zu den Tafeln kämen, sei inzwischen nicht mehr auszugleichen. „Selbst wenn wir so viele Lebensmittel bekämen wie früher, es würde nicht reichen. Aber die Spenden sind deutlich weniger geworden.“ Es sind Senior:innen, die jetzt neu hinzukommen, Familien, die früher gerade so über die Runden gekommen sind und seit der Inflation nicht mehr. „Wir haben viele Aufnahmestopps bei uns und kommen nicht ohne Wartelisten aus“, sagt Jung.

Die Tafeln seien am Limit, sagt auch der Vorsitzende des Dachverbands Tafel Deutschland, Jochen Brühl, dem Tagesspiegel. „Seit Jahresbeginn verzeichnen wir einen Anstieg der Kundinnen und Kunden von 50 Prozent.“ Gleichzeitig seien die Lebensmittelspenden zurückgegangen. „Rund ein Drittel der Tafeln ist so überlastet, dass sie Aufnahmestopps verhängen mussten.“ Im Winter könne die Situation durch die anhaltende Inflation und die gestiegenen Energiepreise noch dramatischer werden. 

Brühl betont, dass die Tafeln ein Zusatzangebot seien, das entlasten wolle, aber auch nicht mehr. „Wir sind eine Bürgerbewegung, die aus der Lebensmittelrettung entstanden ist. Wir versorgen nicht, wir unterstützen.“ Er kritisiert, dass die Tafeln inzwischen schon viel zu sehr eingepreist seien und für selbstverständlich gehalten würden.

Einige Behörden würden Geflüchtete erstmal zur Tafel schicken, bevor sie überhaupt Sozialleistungen bezögen. „Das geht nicht. Wir sind kein Teil des sozialstaatlichen Systems, wir wollen Lebensmittel retten. Inzwischen machen wir öffentlich auf die sozialen Missstände aufmerksam, aber es ist nicht unsere Aufgabe, Armut zu bekämpfen und die Missstände zu beseitigen.“

Uns erwartet eine gesellschaftliche, soziale und politische Zeitenwende. Pflästerchen kleben reicht da nicht aus.

Jochen Brühl, Vorsitzender des Bundesverbandes Deutsche Tafel e.V.

Die bisherigen Maßnahmen der Politik in der Krise hält Brühl nicht für ausreichend. „Uns erwartet eine gesellschaftliche, soziale und politische Zeitenwende. Pflästerchen kleben reicht da nicht aus.“

In Berlin wurden Pop-Up-Ausgabestellen eröffnet

Gerade werde darüber diskutiert, dass Menschen, die arbeiten, deutlich mehr Geld zur Verfügung habe müssten, als diejenigen, die nicht arbeiten. „Aber das Problem ist nicht, dass die Sozialleistungen zu hoch sind, sondern vielmehr, dass die Bezahlung in vielen Jobs zu gering ist.“

Sein Appell an die Ampel: Gezielte Unterstützungen, vor allem Alleinerziehende und Rentner:innen sollte die Regierung mehr ins Visier nehmen.

Auch in Berlin ist der Anstieg der Tafel-Kund:innen deutlich zu spüren. Seit dem Frühjahr hat der Verein acht sogenannte Pop-Up-Ausgabestellen eingerichtet, die zu den 47 regulären LAIB und SEELE-Ausgabestellen hinzukommen. Mit diesen vorübergehenden Zusatzangeboten sollen Aufnahmestopps verhindert werden. 

Die Spenden sind magerer geworden

660 Tonnen Lebensmittel verteilt die Berliner Tafel monatlich. Vor allem frische Produkte fehlen mehr denn je. „Früher machten Obst und Gemüse zwei Drittel oder drei Viertel unseres Sortiments aus, jetzt sind es nur noch 30 bis 40 Prozent“, sagt Geschäftsführerin Antje Trölsch dem Tagesspiegel.

„Wir führen das immer noch auf gestörte Lieferketten zurück, engere Kalkulationen bei den Märkten und mehr kommerzielle Lebensmittelretter. Im Sinne der Nachhaltigkeit sind die eine super Sache, aber bei steigender Bedürftigkeit kommt das für uns zur Unzeit.“

Ein reduziertes Sortiment beklagt auch Petra Jung in Nordrhein-Westfalen. „Wir bekommen gerade sattelschlepperweise Tiefkühlpizzen und Schokolade. Woran es mangelt, ist Obst und Gemüse. Die Supermärkte kalkulieren spitzer“, sagt Jung. Telefonisch betreibe der NRW-Landesverband momentan vermehrt Akquise, um mehr Lebensmittel-Großspenden direkt von Herstellern zu bekommen. „Wir ziehen alle Register.“ So viel Lob die Tafeln auch für ihr Engagement bekommen, dass sie überhaupt notwendig zu sein scheinen, wird vielfach kritisiert.

Die Tafeln seien der „Stachel im Fleisch unseres Sozialstaates“, sagt Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands dem Tagesspiegel. „Was wir erleben, ist ein menschliches Drama mit Ansage. Seit Jahren ist bekannt, dass die Regelsätze in der Grundsicherung nicht ausreichen, um eine vernünftige Ernährung sicherzustellen.“

Nach unseren Berechnungen müsste der Regelsatz auf 725 Euro angehoben werden, um den Menschen tatsächlich das gesellschaftliche Existenzminimum sicherzustellen.

Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands

Bekannt sei auch, dass die geplante Erhöhung der Regelsätze zum 1. Januar um 53 Euro daran nichts ändern werde. Sie sei gerade einmal ein Ausgleich des inflationsbedingten Kaufkraftverlustes des letzten Jahres. „Nach unseren Berechnungen müsste der Regelsatz auf 725 Euro angehoben werden, um den Menschen tatsächlich das gesellschaftliche Existenzminimum sicherzustellen. Die Politik muss endlich handeln, statt zuzuschauen.“

Ähnlicher Ansicht ist Amira Mohamed Ali, Vorsitzende der Fraktion Die Linke im Bundestag. „Es ist eine Schande, dass in Deutschland immer mehr Menschen zur Tafel gehen müssen, weil bei ihnen das Geld hinten und vorne nicht ausreicht“, sagt sie dem Tagesspiegel. „Der Andrang bei den Tafeln ist nicht vom Himmel gefallen, sondern Ergebnis der Verarmungspolitik der Bundesregierung.“

Es ist eine Schande, dass in Deutschland immer mehr Menschen zur Tafel gehen müssen, weil bei ihnen das Geld hinten und vorne nicht ausreicht.

Amira Mohamed Ali, Vorsitzende der Fraktion Die Linke im Bundestag

Sie fordert, die Mehrwertsteuer für Lebensmittel auf 0 zu setzen, Sozialleistungen deutlich zu erhöhen und ein Wintergeld von 1500 Euro pro Haushalt und 600 Euro für jedes weitere Haushaltsmitglied auszuschütten sowie einen sofort wirksamen Preisdeckel für Energie auf bezahlbarem Niveau.

Auch Stephanie Aeffner von den Grünen, Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales, bezeichnet die aktuelle Entwicklung als beunruhigend. Es sei staatliche Aufgabe, das Existenzminimum zu sichern. Sie findet, dass die Regierung dafür viel tut. „Mit verschiedenen Maßnahmen und Entlastungspaketen haben wir reagiert, um die Belastungen aufgrund der steigenden Preise abzufedern,“ sagt sie dem Tagesspiegel. Gerade den Grünen sei es besonders wichtig, dass die Entlastungen vor allem Menschen mit kleinen Einkommen oder Renten und Familien erreichten.

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