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Eisbären kennen hoch im Norden keine Furcht.

© Asa Lindgren

Polarexpedition: Wissenschaft auf dem Eisbärenspielplatz

Unterwegs mit dem Eisbrecher „Oden“ zu einem der größten Rätsel der Arktis. Theresa Mathes erforscht hier den Einfluss von Aerosolen auf das Schmelzen des Eises.

Von Barbara Halstenberg

Eisbär auf sechs Uhr!“ Theresa Mathes ist gerade auf dem Eis, überprüft ihre Messungen, als sie von der Funkdurchsage aufgeschreckt wird. Und jetzt? In der weiten Schneelandschaft der Arktis weiß sie nicht, in welcher Richtung sechs Uhr sein soll und wie nah der Eisbär schon ist. Der Eisbärwächter, der die Forschenden der Expedition bei jedem Gang aufs Eis begleitet, ist weiter entfernt. Die 500 Meter durch den Schnee zurück zum Schiff stapfen, mit dem schweren Eisanzug, in dem man sich wie eine Schildkröte bewegt, erscheinen Mathes zu lang. Kurz darauf erreicht sie das rettende Schneemobil, das sie zurückbringt zur „Oden“, dem schwedischen Eisbrecher, der für die nächsten anderthalb Monate das Zuhause der Doktorandin ist.

Die 40 Forschenden auf dem Schiff der ARTofMELT-Expedition haben sich aufgemacht, das Einsetzen der Eisschmelze in der Arktis abzupassen. Der Übergang vom Winter zum Sommer findet hier oben, rund um den 81. Breitengrad, innerhalb von einigen Stunden bis hin zu wenigen Tagen statt und ist noch wenig dokumentiert.

Atmosphärenforscherin Mathes hat am Vormast des Schiffes in zwölf Metern Höhe ein Messgerät platziert, das Anzahl und Bewegung von Feinpartikeln misst, die entweder mit atmosphärischen Strömen in die Arktis gelangen oder durch Wasser und Eis freigesetzt werden. Diese Aerosole können einen ganz entscheidenden Einfluss auf das Schmelzen haben. Zum einen können an den Partikeln Wassertröpfchen kondensieren, wodurch Wolken entstehen.

Eine Wolkendecke aber vermindert den Rückstrahlungseffekt des Eises, den sogenannten Albedo-Effekt, der aus dem Winterurlaub bekannt ist: Im Schnee bekommt man schneller einen Sonnenbrand. Unter der Wolkendecke bleibt die Sonnenwärme auf dem Eis und lässt es schmelzen. Zum anderen können sich Feinpartikel wie Ruß auf der Schneedecke ablagern, das Eis wird dunkler, der Rückstrahlungseffekt vermindert sich ebenfalls.

Atmosphärenforscherin Theresa Mathes vor dem schwedischen Eisbrecher „Oden“.

© Sonja Murto

„Der Trend ist ganz klar“, sagt Theresa Mathes, zurück in ihrem Büro in der Berliner Fasanenstraße, wo sie am Fachgebiet Umweltchemie und Luftreinhaltung promoviert. „Von Jahr zu Jahr schmilzt mehr Eis in der Arktis.“ Mit jedem Sommer nimmt die mehrjährige Eisschicht, also das Eis, das im Sommer nicht ganz abschmilzt, weiter ab. Es wird angenommen, dass warme Luftströme häufiger auf die Arktis treffen, dort länger verweilen und womöglich auch mehr Schmutzpartikel enthalten. Deswegen sind Mathes Messungen so wichtig, die sie auch entfernt von den Schiffsabgasen unternimmt.

In ihrem „Fluxtower“ in der Arktis bestimmen Sensoren die Aerosolkonzentration, indem sie in einer Höhe von 1,5 Metern wie in einem Fahrstuhl kontinuierlich hoch- und runterfahren. Diese Bewegung findet auch eine Eisbärin spannend, die das Gerät zusammen mit ihren beiden Jungen einige Tage nach dem Aufbau inspiziert. Sie dreht die Kisten mit dem Aerosolmessgerät sowie den Temperatur- und Windsensoren um, stellt sich auf den Lift, nagt die Füße vom Stativ ab. Mathes beobachtet das Eisbärenspiel durch ein Fernglas vom Helikopterdeck des Schiffs aus.

Diesmal ist sie von den sonst so bestaunten Eisbärbesuchen nicht begeistert. Die Schiffscrew versucht, die Tiere mit dem dröhnendem Schiffshorn, mit Leuchtfeuern und Warnschüssen zu vertreiben. Doch keine Chance. Hoch im Norden kennen die Eisbären keine Furcht, denn sie haben keine Feinde. „Die sehen ein Boot, das riecht gut und da stehen lauter Geräte auf dem Eis. Das war ein toller Eisbärspielplatz“, erinnert sich Mathes lachend. Jetzt zahlt sich die viermonatige Vorbereitungszeit für die Expedition aus, in der sie alles bis ins kleinste Detail geplant hat. Weit entfernt von der Zivilisation gibt es weder Internet noch Telefon, Ersatzteile können nicht bestellt werden. Als sich die Eisbärin schließlich mit ihren Jungen trollte, konnte Mathes den gebrochenen Windsensor glücklicherweise austauschen.

Welche Erscheinungsformen hat das Eis?

Zu den täglichen Aufgaben der Doktorandin gehört auch, für einen Kollegen den Zustand der Eisdecke zu beobachten, um eine satellitengestützte künstliche Intelligenz für die Analyse des arktischen Eises zu trainieren. Jeden Abend trägt sie in ein System ein, welche Erscheinungsform das Eis aktuell hat, wie dick es ist, ob es Algen enthält, wie das Verhältnis von Wasser und Eis ist. Ihr fällt auf, wie viele verschiedene Eistypen es gibt und wie veränderbar sie sind. Mal ist die Eisdecke geschlossen, dann haben sich zwei Schollen zu kleinen Hügeln zusammengeschoben. Und sie lernt auch das „Pfannkucheneis“ kennen, das aus vielen, sich berührenden runden Eisstücken besteht. „Das war wirklich die schönste Landschaft, die ich je gesehen habe“, sagt Mathes, „und das, obwohl eigentlich alles nur weiß ist.“

Theresa Mathes beim Aufbauen des „Fluxtowers“, mit dem sie die Aerosolkonzentration misst.

© Technische Universität Berlin

Für einen weiteren Kollegen vom Institut für Troposphärenforschung in Leipzig, der den Rußgehalt im Eiswasser bestimmen möchte, entnimmt Theresa Mathes täglich Wasserproben. Die meiste Zeit kann sie dafür einfach den Wasserhahn im Schiffslabor aufdrehen, aber manchmal geht es auch raus an die Eiskante, ein nicht ganz ungefährlicher Arbeitseinsatz. Falls die Kante trotz eingehender Prüfung abbrechen sollte, wird sie von einer anderen Person mit Gurten festgehalten. Im Notfall würde auch der schwere Eisanzug helfen, mit dem man sechs Minuten im arktischen Wasser überleben kann.

Mathes ist beeindruckt von dem menschlichen Miteinander an Bord. Hatte sie zu Beginn noch gefürchtet, sich einsam zu fühlen und dann noch nicht einmal zu Hause anrufen zu können, hat sie am Ende der Expedition ganz besondere Freundschaften geschlossen. Die permanenten Extremsituationen unter großem Stress und die Begeisterung für die Arktis schweißen zusammen.

Auch die Eisbären interessieren sich für die wissenschaftlichen Geräte.

© Asa Lindgren

Wochen vergehen, Eisbären kommen und gehen, die Sonne scheint, der Himmel ist komplett blau. Die „Oden“ schafft es nicht, die vorausgesagten ersten warmen Luftströme zu erreichen. Zu dick ist das Eis zu dieser Jahreszeit, der Eisbrecher kommt nur sehr langsam voran. Bei schönem Wetter, während seltener Pausen, beobachtet Mathes am liebsten von der Reling aus, wie das Schiff Stück für Stück die Eisdecke durchbricht, sich Eisschollen unter lautem Knacken lösen und unter dem Wasser wegdrehen, sodass die unteren Eisschichten hellblau schimmernd sichtbar werden.

Der Kapitän drängt zur Weiterfahrt

Kurz vor Ende der Expedition, die „Oden“ ankert seit zwei Wochen an einer großen Eisscholle, kündigt die Wettervorhersage einen Sturm an. Die kontinuierliche Drift der Eisscholle sorgt dafür, dass die Seile, mit denen die „Oden“ am Eis festgemacht ist, unter enormem Druck stehen. An den Verankerungen im Eis haben sich schon Risse gebildet. Ein Zerreißen der Seile wäre gefährlich, der Kapitän drängt zur Weiterfahrt.

Da kommt sie doch noch, die Voraussage einer warmen atmosphärischen Strömung. Erst wird es nebelig und dann ist sie plötzlich da, die warme Luft. Die Temperaturen klettern auf ein Grad über Null und es beginnt zu regnen. Die Forscher:innen wollen aufs Eis, Messungen durchführen, Proben entnehmen. Aber da ist schon wieder ein Eisbär. Wie ein Phantom taucht er immer wieder aus dem Nebel direkt vor dem Schiff auf, dann ist er wieder verschwunden. Für die Forscher:innen ist es zu riskant, jetzt aufs Eis zu gehen. Die Messtationen werden von einem Schneemobil zurückgebracht.

Dann zieht der vorhergesagte Sturm auf, alles muss in größter Eile für die Rückfahrt auf hoher See verstaut werden. Mathes hat Glück: Ihr Gerät am Schiffsmast kann noch bis zum nächsten Mittag Messungen vornehmen. Dann muss auch sie alles in Sturm und eisigem Regen verpacken. Am Ende sticht die „Oden“ unbeschadet wieder in See und erreicht pünktlich die Insel Spitzbergen, wo sich die schwedische Kronprinzessin Victoria für einen Besuch auf dem Schiff angekündigt hat. Für Theresa Mathes geht es nun an die Auswertung der Daten. Viel würde sie geben, um noch einmal an einer Expedition ins Eis teilnehmen zu können.

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