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Zugewandt stehen sie da: Bundeskanzler Olaf Scholz und Oppositionsführer Friedrich Merz.

© Imago/Political-Moments

Sehnsucht nach der Großen Koalition: Warum das Mitte-Bündnis so verlockend ist – und risikoreich

In Berlin arbeiten CDU und SPD gut zusammen. In Hessen könnte die CDU in das gleiche Bündnis wechseln. Im Bund nahm Söder das Wort schon in den Mund: Große Koalition. Diese Sehnsucht birgt Gefahren.

Ein Kommentar von Julius Betschka

Es regiert sich einfach ruhiger zu zweit als zu dritt. Man kann das gerade gut sehen, etwa in Berlin. Der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) koaliert hier nun seit einem halben Jahr recht geräuschlos mit den Sozialdemokraten.

Das alles ist keine Liebe. Aber Konflikte werden weitgehend intern gelöst. Anders als in der Bundesregierung ist Streit zwischen den zwei Partnern oft mit einem Gespräch unter vier Augen geklärt. Im Koalitionsausschuss auf Bundesebene sitzen fast 20 Leute beieinander.

Man kann sie im Regierungsviertel in diesen Tagen spüren: die Sehnsucht nach der alten Zeit. Viele der handelnden Politiker sind ja sozialisiert mit den drei großen CDU-CSU-SPD-Bündnissen unter Angela Merkel.

Die Nuller- und Zehnerjahre waren GroKo-Zeit. Irgendwann war es dann natürlich mal gut. Politikwissenschaftler hatten das Bündnis zuletzt als Maschine des kleinstmöglichen Kompromisses verschrien, als Motor der Polarisierung, als Fortschrittsbremse.

Von der Kompromissmaschine zum Ruhepol in der Krise

Doch diese Zeit ist schnelllebig: Nur zwei Jahre Ampel-Regierung und multiple globale Krisen nähren die Sehnsucht nach dem alten Miteinander in der Mitte. Es war doch nicht alles schlecht! Die Mehrheit der Bürger glaubt, laut einer Umfrage von Forsa, der Wechsel der Koalition wäre gut fürs Land.

CSU-Chef Markus Söder wagte sich mit einem Groko-Angebot an Bundeskanzler Scholz vor. Man mag das als Provokation abtun: Aber Söder erkennt Stimmungen meist schneller als andere. Auch Scholz selbst sah ja die Sehnsucht nach mehr Gemeinsinn in der Krise – und lud die Union beim Thema Migration zur Mitarbeit ein.

Für die SPD kommt die Debatte zur rechten Zeit. Bei den Sozialdemokraten hoffen sie, dass die vermeintliche Macht-Alternative für den Kanzler die beiden kleineren Partner FDP und Grüne zähmt. Dort sei der Ernst der Lage noch immer nicht erkannt, glaubt mancher Spitzengenosse.

Sie ist die Personifizierung der großen Koalition: Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) führte drei dieser Bündnisse.
Sie ist die Personifizierung der großen Koalition: Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) führte drei dieser Bündnisse.

© dpa/Fabian Sommer

Allerdings ist es laut den Umfragen auch gerade für niemanden so ernst wie für die SPD: Die Sozialdemokraten sind seit der Bundestagswahl um mehr als zehn Prozentpunkte abgestürzt. FDP und Grüne halten sich – im Vergleich dazu – leidlich stabil.

Für den Absturz ist natürlich zu einem Teil die Kommunikation verantwortlich. So stellt es die Ampel gern selbst dar. Der tatsächliche Grund dafür ist jedoch schwerwiegender: Gerade FDP und Grüne schauen mit komplett unterschiedlichem Blick auf die Welt. In der Industriepolitik, in der Familien- und Sozialpolitik, in der Klimapolitik sowieso. In der Fiskalpolitik, Grundlage allen politischen Handelns, eint alle drei Partner nur wenig. Daher kommt der Streit, nicht von schlechter Kommunikation.

Realistische Aussichten auf einen Wechsel im Bund gibt es bislang nicht. Die Union hat kein echtes Interesse daran, sich aus der Oppositionsrolle in die Niederungen der Regierungsarbeit zu begeben.

Julius Betschka, Tagesspiegel-Chefreporter

Ja, die gute alte Zeit. Früher, heißt es jetzt häufiger, habe man sich schon immer irgendwie einigen können zwischen Union und SPD. Oder man schob Themen eben auf. Wenn zwei sich in einer Zweierkonstellation streiten, ist eben niemand Drittes da, um sich zu freuen. Weniger Ideologie, mehr Lösungen – so lautet die Losung der GroKo-Fans. So verkauft auch Kai Wegner in Berlin seine Koalition.

Mit dem Durchschummeln ist es jetzt vorbei

Die Gefahr an der neuen Liebe zur Mitte: Mit dem alten Durchschummeln wird es im vielleicht entscheidenden Transformationsjahrzehnt dieses Jahrhunderts nicht mehr gehen. Man sieht es doch: Die CSU hat die Deutsche Bahn in Trümmern hinterlassen, der Ausbau der Erneuerbaren Energien wurde verschleppt, die wirtschaftliche Abhängigkeit von den Diktaturen der Welt wird jetzt zum Sicherheits- und Wohlstandsrisiko.

Beim Thema Migration gab es nie eine echte Hinwendung zum Einwanderungsland – oder eine Abkehr. Es war stattdessen wieder irgendwas... na? In der Mitte. Würde eine Neuauflage dieses Bündnisses nun mutiger vorgehen? Vermutlich nur, wenn es die Verhältnisse erzwingen würden.

Freilich, das sind Gedankenspiele. Realistische Aussichten auf einen Wechsel im Bund gibt es bislang nicht. Die Union hat kein echtes Interesse daran, sich aus der Oppositionsrolle in die Niederungen der Regierungsarbeit zu begeben. Keine der Ampel-Parteien kann sich aktuell ein Platzen des Bündnisses leisten. Ampel-Kanzler Scholz würde als gescheitert gelten. Und doch, die Aussicht auf dieses mögliche Bündnis der Ruhe wirkt auf manchen offenkundig so heimelig wie ein warmer Herbsttee mit Honig.

In Hessen arbeitet gerade Ministerpräsident Boris Rhein von der CDU an einer neuen Koalition. Er wird die Debatte im Bund aufmerksam verfolgen und ebenso genau schauen, wie sich sein Parteifreund Wegner in Berlin mit den Sozialdemokraten schlägt.

Kommende Woche will Rhein wohl entscheiden, ob er die SPD gegen die Grünen eintauscht. Das wäre ein Signal – natürlich zuallererst mit Blick auf die Bundestagswahl 2025. Aber wer weiß, in diesen Zeiten.

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