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Kemal Kılıçdaroğlu, Vorsitzender der größten Oppositionspartei CHP, trat bei den Präsidentschaftswahlen in der Türkei im Mai gegen Präsident Recep Tayyip Erdoğan an.

© picture alliance / abaca/Depo Photos/ABACA

Viel Frust, wenig Hoffnung: Die türkische Opposition wollte Erdoğan stürzen – und zerlegt sich nun selbst

Als geeintes Bündnis wollte die Opposition Erdoğans 20-jährige Herrschaft beenden. Doch das ehrgeizige Projekt ist endgültig gescheitert. Wie sehr hilft das dem Präsidenten?

Ein Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Ganze drei Monate hat es gedauert, ehe sich der türkische Oppositionsblock die eigene Niederlage eingestehen konnte.

Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan hat die Stichwahl Ende Mai mit rund 52 Prozent der Stimmen für sich entschieden. Das oppositionelle Bündnis aus sechs einzelnen Parteien unterlag, Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu konnte die 20-jährige Herrschaft Erdoğans nicht beenden.

Nun ist unter seinen Gegnern ein Streit aufgeflammt. Damit offenbart sich die hässliche Realität hinter dem einst pompös präsentierten Oppositionsprojekt. Der sogenannte Tisch der Sechs ist gebildet worden, um den Präsidenten zu stürzen.

Krise in der türkischen Opposition

Doch die Opposition der Türkei befindet sich mittlerweile in einer existenziellen Krise. Die Unstimmigkeiten der einstigen Verbündeten zeigt sich in diesen Tagen vor allem an der Flut der Erklärungen, die einzelne Parteien abgeben.

Deutlich wird dadurch vor allem eins: Fast der gesamte Wahlkampf war von Misstrauen gespickt, getarnt unter falschem Lächeln und einem zynischen Sturzflug auf die Abgeordnetensitze der am „Tisch“ vertretenen kleineren Parteien.

Besonders anschaulich wird das durch die Aussagen von Meral Akşener. Zwar entschuldigte sich die Vorsitzende der nationalistischen İyi-Partei für das enttäuschende Wahlergebnis: „Wir haben das Rennen um die Änderung des parteiischen Präsidialsystems verloren“, griff aber wenig später das oppositionelle Bündnis – zu dem sie einst gehörte – direkt an. Das schade „vor allem der Dynamik der türkischen Politik“.

Im Bündnissystem selbst sieht sie gar das größte nationale Sicherheitsproblem und „Bemühungen separatistischer Strukturen, das System zu unterwandern“. Und fügte hinzu: „Polarisierte Politik verstärkt die soziale Polarisierung und ist Wasser auf die Mühlen der Regierung.“

Keine Einigkeit in der Opposition

Subtil verweist Akşener mit der Aussage „separatistischer Strukturen“ auf die pro-kurdische Bewegung als Schuldige der gemeinsamen Niederlage, obwohl man noch im Wahlkampf gemeinsam um die Stimmen der sechs Millionen Kurden im Land warb.

48
Prozent der Stimmen bekam bei der Präsidentschaftswahl im Mai der gemeinsame Kandidat der Opposition Kemal Kılıçdaroğlu.

Noch bis zu den Wahlen im Mai wurde die „Allianz der Opposition“ von den mitwirkenden Parteien als ein wahr gewordener Traum dargestellt – und damit auch aufgeblasen. Doch die große Einigkeit, mit der sich das Bündnis noch im Wahlkampf zeigen wollte, es gibt sie nicht.

Doch statt des Verlustes der Präsidentschaftswahl einzugestehen, konzentrieren sich die oppositionellen Parteien nun auf die Kommunalwahlen im März 2024. Wird das die nächste Niederlage?

Kommunalwahlen 2024 – Opposition tritt einzeln an

Nachdem die gemeinsame „Nationale Allianz“ nun also für tot erklärt worden ist, wird jede einzelne Oppositionspartei wieder mit ihrem jeweiligen Kandidaten zu den Kommunalwahlen antreten.

Das oppositionelle Bündnis schadet der Dynamik der türkischen Regierung.

Meral Akşener, Vorsitzende der nationalistischen İyi-Partei

Die CHP als größte Oppositionspartei steckt aber seit den Wahlen in einem heimtückischen Machtkampf. Der Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu weigert sich zurückzutreten, die Wähler sind enttäuscht.

Die pro-kurdische HDP hat in den vergangenen Monaten vor allem geschwiegen. Mit der Kritik, dass es ein Fehler war, Kılıçdaroğlu statt ihren inhaftierten Ex-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş zu unterstützen, haben sie sich bisher nicht auseinandergesetzt.

Die Grabenkämpfe helfen auch Ekrem Imamoğlu, Istanbuls charismatischem Bürgermeister, nicht, Erdoğans AKP erfolgreich bei den Kommunalwahlen herauszufordern.

Ekrem Imamoğlu, Istanbuls Bürgermeister
Ekrem Imamoğlu, Istanbuls Bürgermeister

© AFP/OZAN KOSE

Dass er zum Vorsitzenden der CHP gewählt wird, ist nahezu aussichtslos. Und nach Akşeners Distanzierung an der Zusammenarbeit mit den Kurden, hat er wenig Chancen, Istanbul zu „behalten“. Seit 2019 reagiert er dort mit der Unterstützung der HDP.

Zugleich bleibt das Lager um den Langzeitpräsidenten Erdoğan nicht untätig. Kürzlich wurden zwei Richter des Berufungsgerichts in den Gerichtsverfahren gegen Imamoğlu durch den von der Regierung kontrollierten Rat der Richter und Staatsanwälte ersetzt.

Entpolitisierung der Gesellschaft

Nach den „Schuldzuweisungen“ innerhalb der Opposition, habe sich das Land weiter entpolitisiert, sagt Bekir Ağırdır. Er ist Gründer des renommierten Meinungsforschungsinstituts Konda.

Die Politik hat ihre emotionale Basis verloren.

Bekir Ağırdır, Gründer des Meinungsforschungsinstituts Konda

„Die Politik hat ihre emotionale Basis verloren“, schrieb er in der türkischen Zeitung „Gazete Oksijen“. „Politische Artikel werden nicht mehr gelesen, Debatten nicht mehr verfolgt. In gewisser Weise scheint die Gesellschaft zu einer Entpolitisierung überzugehen.“

Desinteresse und Gleichgültigkeit

Eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Metropoll verdeutlicht das. Die Gruppe der „Unentschlossenen“ oder „Protestwähler“ ist auf insgesamt 32,5 Prozent gestiegen – nie gab es in der Geschichte der Türkei mehr Unzufriedene.

Der Akademiker Öztürk Armağan stimmte selbst in der CHP-nahen Onlinezeitung „Politikyol“ zu und kritisierte zugleich die „Oppositionselite“, die für das Desinteresse der Wähler verantwortlich sei.

„Egal, was man tut, die Situation ändert sich nicht. Es sieht immer wieder nach einem unerbittlichen Kampf aus“, schrieb Armağan. „Aber in Wirklichkeit spielt in diesem System jeder seine Rolle. Die herrschenden und oppositionellen Eliten macht das gleichermaßen zufrieden.“

Die Politik der Türkei zeichne sich aktuell durch eine gewisse Form der Gleichgültigkeit aus. „Doch die Menschen haben dieses Nullsummenspiel satt“.

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