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Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Recep Tayyip Erdo·an (r), Präsident der Türkei, begrüßen sich zu Beginn eines bilateralen Gesprächs beim Nato-Gipfel.

© dpa/Kay Nietfeld

Gute Beziehungen nach Moskau und Kiew: Erdogan erfüllt eine wichtige Brückenfunktion

Der türkische Präsident Erdogan ist der einzige Staatsmann von Bedeutung, der gute Beziehungen sowohl zu Selenskyj als auch zu Putin unterhält. Das kann einmal sehr nützlich sein.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Politik ist ein Geben und Nehmen. Das weiß kaum einer besser als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. Er versteht es meisterhaft, die Schwächen seines Gegenübers auszunutzen. Gleichzeitig lässt er diesen im Unklaren über die eigenen Absichten und Ziele. Das lässt sich, je nach Grundeinstellung, als Basar-Mentalität charakterisieren oder als höchste  Verhandlungskunst.

Schweden will der Nato beitreten? Okay, sagt Erdogan und treibt nach und nach den Preis dafür in die Höhe, bevor er schließlich seinen monatelangen Widerstand aufgibt. Kein Zufall, dass US-Präsident Joe Biden daraufhin verspricht, den Transfer von F-16-Kampfflugzeugen in die Türkei voranzutreiben. Diese Runde ging klar an Erdogan.

Die Episode zeigt auch, wie selbstbewusst der türkische Präsident auftreten kann. Denn das internationale politische Gewicht seines Landes ist in den letzten Jahren stark gestiegen. Während sich andere Regionalmächte wie Ägypten, Syrien und der Iran in internen Querelen aufreiben, hat Erdogan nach dem gescheiterten Putsch gegen ihn seine Macht konsolidiert.

Noch immer nimmt sein Land die meisten Flüchtlinge auf. Lange Zeit hielt es sich im Großen und Ganzen an das EU-Türkei-Abkommen. Nicht auszudenken für die Europäische Union, wenn es anders gewesen wäre.

Beide Seiten hören auf ihn. Wer kann das schon von sich behaupten?

Seit dem russischen Aggressionskrieg gegen die Ukraine hat Erdogan erneut an Statur gewonnen. Sein Land ist Nato-Mitglied. Doch er selbst ist der einzige Staatsmann von Bedeutung, der es geschafft hat, gute Beziehungen sowohl zum Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, zu unterhalten als auch zum russischen Präsidenten Wladimir Putin. Beide Seiten hören auf ihn. Wer kann das schon von sich behaupten?

Die Türkei herrscht über den Bosporus und damit über den Zugang zum strategisch bedeutsamen Schwarzen Meer. Vor einem Jahr war es Erdogan gelungen, Russland und die Ukraine zu einem Getreideabkommen zu bewegen. Damit entschärfte er das Schreckensszenario, dass infolge von Krieg und Schiffsblockade in vielen Orten der Welt die Ernährung der Menschen nicht mehr gewährleistet werden könnte.

Bereits des Öfteren trafen sich der türkische und russische Präsident in Putins Residenz in Sotschi. Für August kündigte Erdogan einen Gegenbesuch Putins in der Türkei an.

Die Balance zu halten, verlangt ein ausgeprägtes diplomatisches Geschick. Erdogan lässt Drohnen an die Ukraine liefern. Nach einem Treffen mit Selenskyj in der vergangenen Woche in Istanbul sagte er, es gebe „keinen Zweifel daran, dass die Ukraine die Mitgliedschaft in der Nato verdient“.

Sehr zum Missfallen Putins gewährte Erdogan dabei auch die Rückkehr von fünf hochrangigen Kommandeuren des so genannten Asow-Regiments aus der Türkei in die Ukraine. Sie hatten wochenlang das Asow-Stahlwerk in Mariupol verteidigt. Selenskyj ließ sich, mit Erdogans Zutun, als deren Befreier feiern.

Es geht nicht darum, Erdogans Herrschaft schönzureden. Er kontrolliert die Medien, drangsaliert die Opposition, unterdrückt die Kurden und verstößt massenhaft gegen Menschenrechte. In realpolitischer Perspektive muss freilich auch seine Brückenfunktion im Krieg gegen die Ukraine in den Blick geraten. Wer weiß, wozu die eines Tages noch gut ist?

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