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11.07.2023, Litauen, Vilnius: Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, sitzt beim Nato-Gipfel in Litauen. Foto: Paul Ellis/PA Wire/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

© dpa/Paul Ellis

Flüchtlinge, Russland-Politik, Energiefragen: Deshalb brauchen Berlin und Brüssel den türkischen Staatschef

Zwar liegen die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei seit 2016 auf Eis. Demnächst könnte es aber Bewegung zwischen beiden Seiten geben.

Es war ein überraschender Schachzug des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, als er vor dem Nato-Gipfel im litauischen Vilnius eine Wiederaufnahme der EU-Beitrittsgespräche mit seinem Land verlangte. Zwar ließ der 69-Jährige seine Forderung, die eine weitere Blockade des schwedischen Nato-Beitrittes bedeutet hätte, rasch wieder fallen. Aber dennoch könnte es demnächst zu einer Wiederbelebung der Kooperation zwischen Brüssel und Ankara kommen.

Denn schon seit längerem wird in Brüssel überlegt, wie man mit dem Umstand umgehen soll, dass nach der Wiederwahl Erdogans im vergangenen Mai auch in den nächsten Jahren kein Weg an dem Autokraten aus Ankara vorbeiführen wird. An eine Wiederbelebung der EU-Beitrittsgespräche ist zwar bis auf Weiteres nicht zu denken. Aber unterhalb dieser Schwelle tun sich Möglichkeiten für eine Wiederbelebung der Kooperation auf. 

Stockholm verpflichtete sich nach dem Ja Erdogans zum schwedischen Nato-Beitritt am Rande des Gipfels der Militärallianz, den EU-Beziehungen zur Türkei neuen Schwung zu verleihen. Solche Töne waren von Seiten der EU mit Blick auf die Türkei schon lange nicht mehr zu hören. In den Stellungnahmen mancher Staats- und Regierungschefs in Vilnius klang am Dienstag viel neues Wohlwollen gegenüber der Türkei durch.

Die Türkei ist ein wichtiger Partner für uns.

Olaf Scholz (SPD), Bundeskanzler

Allen voran Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der sich am Dienstag separat mit Erdogan traf, kündigte „ein Neuaufsetzen der Zusammenarbeit“ an. „Die Türkei ist ein wichtiger Partner für uns“, sagte Scholz, „das wird dann auch in den künftigen Beziehungen zum Ausdruck kommen.“

Beim letzten EU-Gipfel im Juni wurden der Außenbeauftragte Josep Borrell und die EU-Kommission gebeten, bis zum nächsten Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs im Herbst einen Bericht über Möglichkeiten der weiteren Zusammenarbeit mit Ankara vorzulegen. Deutschland gilt unter den 27 EU-Staaten als treibende Kraft, wenn es um die Suche nach Optionen für eine mögliche Verstärkung der Zusammenarbeit mit Ankara geht. Scholz sagte in Vilnius, er habe sich beim jüngsten EU-Gipfel „sehr dafür eingesetzt“, dass die EU-Kommission zu dem Sachstandsbericht aufgefordert wurde. 

Das Interesse der Bundesregierung an einer Kooperation mit der Türkei hängt auch mit der EU-Migrationspolitik zusammen. Schon einmal war Erdogan für die EU und insbesondere für Deutschland von entscheidender Bedeutung, als die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im März 2016 ein Flüchtlingsabkommen präsentierte. In dem Pakt verpflichtete sich Ankara im Gegenzug für Milliardenhilfen zur Abriegelung von Flüchtlingsrouten.

19.208
Erstanträge wurden in Deutschland zwischen Januar und Juni von Asylbewerbern aus der Türkei gestellt.

Nach der Einschätzung des Migrationsforschers Gerald Knaus, der als Architekt des EU-Türkei-Abkommens gilt, wird die Vereinbarung nicht mehr eingehalten. Gerade Deutschland hat aber ein Interesse an einer Wiederbelebung des Abkommens. Zwischen Januar und Juni wurden in Deutschland 19.208 Erstanträge von Asylbewerbern aus der Türkei gestellt – damit liegen Asylbewerber aus dem Land am Bosporus an dritter Stelle nach Bewerbern aus Syrien und Afghanistan.

Ein weiterer Grund für das Interesse Deutschlands und der EU an einem guten Verhältnis mit der Türkei liegt in Erdogans Haltung angesichts des Ukraine-Krieges. Ankara trat als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine auf und half beim Zustandekommen des Getreide-Abkommens zwischen beiden Kriegsparteien. Außerdem lieferte die Türkei Kampfdrohnen an Kiew.

Treffen mit EU-Ratschef Michel in Vilnius

Dass die Türkei aufs Neue im Fokus der EU ist, verdeutlichte auch ein Treffen des EU-Ratspräsidenten Charles Michel mit Erdogan am Nato-Gipfelort in Vilnius. Anschließend versprach Michel auf Twitter, die Europäische Union und die Türkei wollten ihre Beziehungen „wieder in Schwung bringen“.

Nach dem Militärputsch von 2016 kam es in der Türkei zu massenhaften Verhaftungen. Anschließend legte die EU die Beitrittsgespräche auf Eis.
Nach dem Militärputsch von 2016 kam es in der Türkei zu massenhaften Verhaftungen. Anschließend legte die EU die Beitrittsgespräche auf Eis.

© dpa/Sedat Suna

Allerdings gibt es vorerst keine Aussicht auf eine Wiederaufnahme der Beitrittsgespräche, die nach dem gescheiterten Militärputsch gegen Erdogan 2016 und den folgenden Massenverhaftungen auf Eis gelegt wurden. Gegen eine Neubelebung der Beitrittsverhandlungen sprechen die anhaltenden Verstöße gegen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in der Türkei.

Beim Nato-Gipfel verlautete am Dienstag zu den EU-Beitrittsverhandlungen praktisch nichts. Der Luxemburger Premier Xavier Bettel sagte in Vilnius, man dürfe Ankara „nicht den Rücken“ zuwenden, die Verhandlungslösung zu Schwedens Nato-Beitritt zeige: „Wenn man mit der Türkei redet, findet man auch Lösungen.“

Spekuliert wird auch darüber, ob zusätzliche wirtschaftliche Anreize für die Türkei im Rahmen der EU-Zollunion denkbar sind. Allerdings ist dies nicht ohne Weiteres machbar. Der Grund: Eine Ausweitung der Zollunion ist so lange nicht in Reichweite, wie Ankara nicht in den Konflikten mit den EU-Mitgliedern Griechenland und Zypern einlenkt.

Potenzial für eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen der EU und Ankara gibt es allerdings im Energiebereich. Nach Angaben aus EU-Diplomatenkreisen ist die Türkei hier bislang stark abhängig von Russland. Unter den EU-Staaten wird beim Ausbau der erneuerbaren Energien und der Dekarbonisierung ein wichtiges Feld der Zusammenarbeit mit Ankara gesehen, hieß es weiter.

Der Bundestagsabgeordnete Michael Link, der die Wiederwahl Erdogans als Wahlbeobachter verfolgt hatte, wies auf die schwierige wirtschaftliche Lage der Türkei hin. Das Land brauche dringend ausländische Investitionen aus dem Westen, sagte der FDP-Politiker dem Tagesspiegel. Link sieht auf dem Gebiet der Sicherheit, der Migration und des Klimaschutzes „viel ungehobenes Potential“ für eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen der EU und Ankara. „Eine Wiederaufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU gehört jedenfalls definitiv nicht dazu“, erklärte er. „Erdogans Türkei wird innenpolitisch immer autoritärer, von einer freien Presse kann keine Rede mehr sein, und die Türkei weigert sich, die Urteile des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs umzusetzen“, sagte er zur Begründung.

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