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Viktor Orbán vor Anhänger:innen am Nationalfeiertag Ungarns im März 2023.

© REUTERS/BERNADETT SZABO

Ungarns Ein-Mann-Partei: Wie Orbán zu dem Politiker wurde, der er heute ist

Zsuzsanna Szelényi war eins der frühen Mitglieder der Fidesz-Partei. Sie beschreibt, wie ihr einstiger Mitstreiter und heutiger Regierungschef seine Macht auf alle Bereiche der Gesellschaft ausdehnte.

Ein Gastbeitrag von András Dési

Sie wunderte sich über die Geschwindigkeit. Kaum war Zsuzsanna Szelényi in die von Studenten gegründeten Partei Fidesz (Allianz der Jungen Demokraten) eingetreten, befand sie sich schon in der Drift historischer Ereignisse.

Als im Juni 1989 Imre Nagy erneut bestattet wurde, stand die damals 22-jährige Psychologie-Studentin als Ehrenwache an seinem Sarg. Der ehemalige ungarische Ministerpräsident war 1956 wegen seiner Rolle in der Revolution von 1956 vom Kádár-Regime hingerichtet worden.

„Die Fidesz hat die verschlafene Welt der kommunistischen Macht aufgeregt und aufgewühlt. Wir dachten, wir sind die glückliche Generation, die eine starke europäische Demokratie aufbaut und die historische Spaltung der ungarischen Gesellschaft überwindet”, sagt Szelényi, die heute Programmdirektorin des Instituts für Demokratie der Zentraleuropäischen Universität ist, im Gespräch mit dem Tagesspiel.

Jetzt, im Jahr 2023, ist Ungarn von alledem weit entfernt, sowohl von den einstigen Zielen als auch von den Vorzügen, die das Land während des Übergangs vom „Gulaschkommunismus“ in die freiheitliche Demokratie genoss. Der Musterschüler wurde zum Prügelknaben.

Ich wollte das Drehbuch vorstellen, nach dem Viktor Orbán und seine Entourage die Zweidrittelmehrheit im Parlament missbraucht haben, die sie in einer Krisenzeit errangen.

Zsuzsanna Szelényi, Außenpolitik-Expertin und ehemalige ungarische Abgeordnete

Dieser tragische Wandel spiegelt sich im Titel des neuen Buches von Zsuzsanna Szelényi wider. „Zerrüttete Demokratie“ heißt es auf Ungarisch, „Beschmutzte Demokratie“ (Tainted Democracy) auf Englisch, die erste Ausgabe ist in Großbritannien erschienen.

„Ich wollte das Drehbuch vorstellen, nach dem Viktor Orbán und seine Entourage die Zweidrittelmehrheit im Parlament missbraucht haben, die sie in einer Krisenzeit errangen, und wie sie ihre Macht systematisch und skrupellos erweiterten, von der Wirtschaft über das kulturelle Leben und die Medien bis zu den Wissenschaften.“

„Mein Buch ist keine Rache oder Abrechnung. Ich habe vor mehr als 30 Jahren Fidesz verlassen, ich beobachte die Ereignisse aus einer gewissen Entfernung“, erklärt die ehemalige Abgeordnete, die zuerst für Fidesz (1990-1994) und später (2014-2018) für die vielsprechende, aber nach einer Legislaturperiode über die Fünf-Prozent-Hürde gestürzte liberale Partei „Együtt“ (Zusammen) im Parlament saß.

Zsuzsa wurde in Veszprém, einer Stadt 120 km südwestlich von Budapest, in ein evangelisches Elternhaus geboren. In ihrer Familie hatten viele an der Revolution von 1956 aktiv teilgenommen. Ihre Eltern waren gläubig und antikommunistisch. „Bei uns galt die Grundregel, dass über die Wahrheit nur zu Hause gesprochen wird“, schreibt sie.

Orbán als „ewiger Freiheitskämpfer“?

Das ist eine Formel, die ironischerweise auch aufs aktuelle Ungarn wieder passt; aus Angst vor möglicher Revanche äußern sich viele in Ungarn lieber nicht mehr öffentlich über gewisse politische Fragen.

Eine politische Alternative zeigt sich nicht am Horizont.

Zsuzsanna Szelényi, Außenpolitik-Expertin und ehemalige ungarische Abgeordnete

Es gibt mehr als eine Erklärung dafür, warum Orbán und Co. zuerst Fidesz komplett kapern und schließlich in vier aufeinanderfolgenden Wahlen Supermehrheiten einfahren konnten. Teilweise liegt es an einem Mehrheitswahlsystem, das die großen Parteien begünstigt und seit 2010 mehr als zwanzigmal von der Fidesz-Regierung geändert wurde immer zugunsten ihres Machterhalts.

„Das ganze System ist auf der Person von Viktor Orbán aufgebaut, der politische Mythos des ewigen Freiheitskämpfers hält seine sehr unterschiedliche Wählerschaft zusammen. Dabei war Fidesz in der Lage, alles zu sein: Aus der jungen liberalen Partei wurde zuerst eine national-konservative und schließlich eine radikal rechte Formation“, erklärt Zsuzsanna Szelényi.

Die Politik Viktor Orbáns wird von rechtskonservativer Seite international gefeiert.
Die Politik Viktor Orbáns wird von rechtskonservativer Seite international gefeiert.

© Go Nakamura, Reuters

Mit ihrer christlichen und antikommunistischen Ausrichtung und großzügiger Unterstützung gelang es Fidesz etwa, die Kirchen einzubinden in jenes „System der nationalen Zusammenarbeit“ (NER), das Orbán nach 2010 ausrief. Außenpolitisch führt er die historische ungarische Schaukelpolitik zwischen Ost und West fort. Sie sichert ihm die Bewegungsfreiheit, die für seinen Pfauentanz im Ausland nötig ist.

Für das untere Drittel der Gesellschaft bedeutete das Fidesz-Regime lange eine gewisse Stabilität und Berechenbarkeit. Auf den Wellen des europäischen wirtschaftlichen Wachstums brachte es ihnen auch ein winziges Stück vom Wohlstand. Doch bereits im Jahr 2019 hat es seinen Höhepunkt überschritten, meint Zsuzsanna Szelényi.

Fidesz-Anhänger in Budapest: Orbán weiß, wie Machterhalt funktioniert.
Fidesz-Anhänger in Budapest: Orbán weiß, wie Machterhalt funktioniert.

© Imago

Sein Zerfall könne aber noch lange dauern, eine politische Alternative zeigt sich nicht am Horizont. Orbán, der vor kurzem seinen 60. Geburtstag feierte, will das Land nach eigenen Worten mindestens bis 2030 regieren.

Orbáns deutsche Ziehväter

Ob ihm das gelingt, ist aktuell einem ernsthaften Test ausgesetzt – mitten im Krieg in der Ukraine, einer schleichenden Wirtschaftskrise, einer Inflation auf europäischem Rekord und in einer Situation, in der Ungarn höchstwahrscheinlich auf EU-Geld verzichten werden muss.

Aus deutscher Sicht ist es interessant zu lesen, wie Zsuzsanna Szelényi die Beziehungen zwischen Orbán und Deutschland beschreibt: „Er hatte zwei politische Ziehväter. Als er ein junger Liberaler war, war das der ehemalige westdeutsche Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff. Nach seiner konservativen Wende war es der Kanzler der deutschen Einheit, Helmut Kohl“.

Der Pragmatismus oder Opportunismus von Fidesz lässt sich auch daran ablesen, wie Orbán und seine Leute der jeweiligen Bundesregierung und den als größten Investoren und Wirtschaftspartnern geltenden Bundesländern Bayern und Baden-Württemberg begegnen.

Die Bündnisgrünen werden von der ungarischen Regierungspropaganda und Pro-Fidesz-Medien mit Vorliebe als Feinde der Magyaren dargestellt.

Aber zum Autoindustrie-Standort Baden-Württemberg und dessen Regierung – seit 2011 von einem grünen Ministerpräsidenten geführt – sind die Beziehungen höchst herzlich. Fidesz ist eben in der Lage, alles zu sein.

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