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Abschaltfeiern und Triumphzüge: Greenpeace und der Bund Naturschutz Bayern demonstrieren in München.

© imago/Lindenthaler/IMAGO/B. Lindenthaler

Überhebliche Haltung beim Atomausstieg: Mit Sonderwegen liegt Deutschland in der Regel falsch

Geht’s etwas weniger triumphal und missionarisch? Die Abschaltung der Akws kann sich die Ampelkoalition nur leisten, weil die Nachbarn an Kernkraft und Kohle festhalten.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Klar doch, in Deutschland werden die Lichter nicht ausgehen. Europa sei Dank! Aber können die Befürworter die Abschaltung der letzten deutschen Akws etwas weniger triumphal, weniger missionarisch und mit mehr Realitätssinn begleiten?

In den Hauptnachrichten behaupten Kämpfer der Bewegung, endlich mache die Politik, was die Bürger möchten. In Wahrheit sind klare Mehrheiten dagegen.

Deutschland habe mehr als genug Strom, sei sogar ein Netto-Exporteur, argumentieren Kernkraftgegner weiter. Und Erneuerbare produzierten ihn billiger als Akws.

Behauptungen fern der Realität

Tatsächlich ist Strom für Deutsche teurer als für die meisten EU-Partner. An Wintertagen kann das Land seinen Strombedarf wegen Dunkelflaute nicht decken, bis zu 80 Prozent werden dann mit Gas und Kohle erzeugt, zum Schaden für das Klima.

Deutschland exportiert, wenn Strom im Überfluss auf dem Markt ist. Und muss ihn kaufen, wenn er rar und teuer ist. Ein schlechtes Geschäft.

Gewiss wird Strom auch in Deutschland weiter verlässlich aus der Steckdose kommen – dank der Nachbarn, die nicht überhastet aus Kernkraft und Kohle aussteigen.

Schweden und Schweizer kippen den Ausstieg

Das macht die deutsche Hybris gegenüber europäischen Partnern, die es mehrheitlich anders machen, besonders schwer erträglich. Die große Mehrheit der EU-Staaten behält ihre Akws – darunter Schweden und die Schweiz, die beide früher mal den Ausstieg beschlossen hatten –, baut die Kernkraft aus oder steigt ein.

Wie wahrscheinlich ist es nach aller historischen Erfahrung, dass die Deutschen richtig liegen, wenn sie Sonderwege in Europa beschreiten? Im Fall des Atomausstiegs ist das ebenfalls unwahrscheinlich.

Aber es ist zumindest denkbar, weil es gute Argumente auf beiden Seiten gibt. Es geht nicht um komplett falsch oder komplett richtig, sondern um eine Abwägung zwischen Sicherheit und Entsorgung einerseits. Sowie Versorgungssicherheit, Strompreis und Senkung der Emissionen andererseits.

Deutsche Sonderwege kosten Ansehen und Geld

Da sollte es die Deutschen allerdings nachdenklich stimmen, wenn so viele EU-Staaten sich anders entscheiden als die Ampelkoalition. Der teils unbekümmerte, teils rechthaberische Hurra-Patriotismus klingt schrill und schmerzhaft.

Da bricht eine deutsche Überheblichkeit durch wie in anderen Fragen, bei denen Deutschland in Europa ziemlich alleine dasteht oder eine Minderheitenposition einnimmt: in der generellen Energiepolitik, im Umgang mit Russland vor dem Krieg, bei der Vernachlässigung des Militärs, in der Migrations- und Asylpolitik, beim Widerstand gegen Tempolimits.

Deutsche Sonderwege sind in der Regel falsch. Sie kosten Ansehen, Vertrauen und Geld. Die Deutschen zahlen höhere Strompreise und auch mehr für die Folgen ihrer Migrationspolitik als andere.

Beim Atomausstieg wären die Grünen gut beraten, sich nicht als Lehrmeister aufzuspielen. Sondern den Partnern zu sagen: Wir sehen, dass ihr andere Wege wählt. Wir wissen, dass wir unseren Sonderweg nur gehen können, weil es einen europäischen Strommarkt gibt.

Danke, dass Ihr uns experimentieren lasst, ohne fürchten zu müssen, bitter bestraft zu werden, wenn sich unser Weg als Fehler herausstellt.

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