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SPD-Parteichef Lars Klingbeil (rechts) und SPD-Bundestags-Fraktionschef Rolf Mützenich auf dem Weg nach Kiew.

© dpa/Fionn Große

Abkehr von Ignoranz und Arroganz: Deutschland muss sich das Vertrauen der Nachbarn im Osten neu verdienen

SPD-Chef Klingbeil traut sich in Warschau an die Aufarbeitung des Zerwürfnisses um die deutsche Ostpolitik. Doch nicht allein die SPD, ganz Deutschland sollte den östlichen Nachbarn besser zuhören.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Lars Klingbeil verdient Lob und Unterstützung. Der SPD-Chef hat verstanden, wie viel Misstrauen den Sozialdemokraten – und Deutschland insgesamt – bei den östlichen Nachbarn entgegenschlägt. Ein Kontrast zum Großteil seiner Partei, der Mut macht.

Klingbeil hat ein Treffen der Sozialdemokraten in Warschau initiiert, um „verloren gegangenes Vertrauen bei den Partnern in Mittel- und Osteuropa zurückzugewinnen“ und die Menschen dort zu überzeugen, dass die SPD-geführte Bundesregierung es mit der Zeitenwende ernst meint.

Es ist eine radikale Wende in der Ostpolitik: Schluss mit der Leitidee einer „deutschen Sonderbeziehung“ zu Russland, heißt es in Klingbeils Fünf-Punkte-Papier. Ins Zentrum rücken die ost- und mitteleuropäischen Staaten und deren Sicherheitsinteressen. Klingbeil erklärt sie zu deutschen Interessen. Europa müsse Sicherheit vor Russland durch glaubhafte Abschreckung organisieren.

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„Mitteleuropa first“ statt „Russland first“. Samt dem Eingeständnis: Es war „ein Fehler“, dass „wir“ den Warnungen der Nachbarn, welche Bedrohung von Russland ausgeht, „zu lange keine Berücksichtigung geschenkt“ haben.

Es wäre eine Revolution, wenn Klingbeil dieses neue Denken in der SPD durchsetzt, auch bei der Kovorsitzenden Saskia Esken, Generalsekretär Kevin Kühnert, Fraktionschef Rolf Mützenich.

Doch zum Schluss seines Fünf-Punkte-Plans fällt Klingbeil in den patriarchalischen Duktus zurück, den er zuvor zu Recht angeprangert hat: „Auf Deutschland kommt dabei eine klare Führungsrolle zu.“

Nach den Fehlern der deutschen Ostpolitik wären die Deutschen gut beraten, ihren östlichen Nachbarn zuzuhören und sich von ihnen beratend führen zu lassen, ehe sie selbst Führung beanspruchen. Die Partner haben seit Jahren vor diesen Fehlern gewarnt. Dem begegnete Deutschland mit Ignoranz. Und der Arroganz, es besser zu wissen.

Ignoranz und Arroganz gegenüber den östlichen Nachbarn haben eine lange Tradition im deutschen Denken. Die Idealisierung der alten Ostpolitik in der SPD ist nur eine Spielart davon.

Seit den polnischen Teilungen gehörte es zu preußischer und dann deutscher Großmachtpolitik, souveräne Staaten zwischen Deutschland und Russland zu verhindern. Als sie infolge des Ersten Weltkriegs doch entstanden, taten sich Hitler und Stalin zusammen, um diese „Saisonstaaten“ wieder zu zerstören. Schicksal Mitteleuropas sollte es sein, von Deutschen oder Russen beherrscht zu werden.

Im Kalten Krieg war die Konzentration auf eine Entspannung mit Moskau nicht falsch. Ohne Billigung des Kremls war eine Verständigung der Bonner Regierungen mit Polen, der Tschechoslowakei, der DDR und anderen Warschauer-Pakt-Staaten nicht möglich.

Aber die SPD erhob die aus realpolitischer Not geborene Sonderbeziehung zu Moskau zu einer Tugend, statt deren Überwindung als strategisches Ziel zu verfolgen. Die polnische Freiheitsbewegung Solidarnosc wurde vom SPD-Kanzler Helmut Schmidt nicht unterstützt, sondern als Störung der Stabilität und Gefahr für den Frieden beklagt. Er zeigte Verständnis für die Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981.

Deutschland und Frankreich behandeln die Partner im Osten wie Mitglieder zweiter Klasse.

Christoph von Marschall

Polen, Tschechen und Balten stürzten die kommunistischen Diktaturen und strebten als demokratische Marktwirtschaften in die EU und die Nato. Doch obwohl die Deutschen ihnen die Einheit verdankten, behandelten sie sie nicht als Partner auf Augenhöhe, sondern wie Schüler, denen die westeuropäischen Lehrer erklären, wo es langgeht.

Als Mitteleuropäer früh vor Wladimir Putins imperialen Plänen und vor einer gefährlichen Energieabhängigkeit durch die Nord-Stream-Pipelines warnten, taten das Deutsche mit Besserwisser-Gestus ab. Die Balten und Polen hätten eine schwierige Geschichte mit Russland, da müsse man das Misstrauen verstehen. Gemeint war: Man muss es nicht ernst nehmen.   

Wegen dieser langen Tradition der Überheblichkeit wird Deutschland das verlorene Vertrauen auch nicht wiedergewinnen, wenn nur die SPD ihre traurige Geschichte des Umgangs mit Balten, Polen, Tschechen, Ukrainern aufarbeitet. Die ganze Gesellschaft muss sich mit der Attitüde gegenüber den Völkern im östlichen Mitteleuropa auseinandersetzen.

Für die deutsche Wirtschaft wichtiger als China

Ignoranz und Arroganz hindern die Deutschen in vielen Bereichen, in der Gegenwart anzukommen. Für den ökonomischen Erfolg Deutschlands sind die östlichen Nachbarn seit Jahren wichtiger als China, wie sich an Handel und Investitionen ablesen lässt, und um ein Vielfaches bedeutender als Russland. Im gesellschaftlichen Dialog spielen jedoch die ideologischen Differenzen mit den Nationalpopulisten in Polen oder Ungarn eine größere Rolle als der gemeinsame Vorteil.

EU und Nato sind durch die Integration der mitteleuropäischen Staaten östlicher geworden. Das hat Auswirkungen auf die Meinungsbildung der Bündnisse. Die USA berücksichtigen das längst. Präsident Joe Biden hat seine beiden großen Reden zum Ukraine-Krieg in Warschau gehalten.

Deutschland und Frankreich behandeln die Partner im Osten hingegen wie Mitglieder zweiter Klasse. Dabei darf man darauf wetten, dass Berlin und Paris weniger Einfluss auf die Frage haben werden, zu welchen Bedingungen die Ukraine irgendwann zu Verhandlungen mit Russland gedrängt wird, als die Koalition aus den USA und den östlichen Alliierten.

Trotz dieser Dynamiken spielen die Völker zwischen Deutschland und Russland in Talkshows und anderen prominenten Debattenformaten keine Rolle. Die Redaktionen laden gelegentlich Russland- oder Ukraineexperten ein. Das Wissen über Polen, Tschechen und andere direkte Nachbarn sowie deren Einfluss auf die neue Lage bleibt ungenutzt. Die Verantwortlichen von Anne Will bis Markus Lanz scheinen ihr Versäumnis nicht einmal zu sehen.

Nicht nur die SPD, sondern ganz Deutschland muss sich das Vertrauen der Nachbarn im Osten neu verdienen. Nicht um guten Willen zu zeigen, sondern aus ureigenem Interesse.

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