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Anhänger der Oppositionskoalition „Serbien gegen Gewalt“ nehmen an einer Demonstration vor dem Belgrader Rathaus teil.

© imago/ITAR-TASS/IMAGO/Alexander Dzyuba

Ruhe vor dem nächsten Sturm in Serbien? : Neue Proteste könnten Machthaber Vučić in Bedrängnis bringen

Kurz vor dem orthodoxen Weihnachtsfest am 7. Januar herrscht vorfestliche Ruhe in Serbien. Doch der Wahlbetrug am 17. Dezember ist nicht vergessen.

Von Barbara Traut

Warum wurde am 17. Dezember gewählt?

Eine Woche vor Heiligabend – im orthodox geprägten Serbien selbst wird Weihnachten allerdings erst im Januar gefeiert – durften die Serb:innen ihr nationales Parlament wählen. Zugleich wurde auch die Regionalregierung in der Vojvodina und die Kommunalparlamente in 65 Städten und Gemeinden, darunter die Hauptstadt Belgrad, neu bestimmt. In allen hatte die SNS die Mehrheit, die Partei des Staatspräsidenten.

Diese vorgezogene Neuwahl – regulärer Termin wäre April 2024 gewesen – war bereits die dritte in nicht einmal vier Jahren. Staatspräsident Aleksandar Vučić, de facto Serbiens starker Mann, erhoffte sich dadurch einen Befreiungsschlag oder doch Ablenkung von einer Vielzahl von Problemen (s. unten). Er wollte außerdem die knappe Mehrheit der von ihm gegründeten Partei SNS im Stadtrat von Belgrad ausbauen. Die SNS regierte dort bis dahin nur mit einer Stimme plus.

Wie verlief die Wahl?

Sie war nach Angaben nicht nur der unterlegenen Opposition weder fair noch frei. Auch eine Wahlbeobachtungskommission der OSZE beoachtete in großem Stil Wahlbetrug, Stimmenkauf, Einschüchterung und Gewalt und weit vor der Wahl eine massive Nutzung der wichtigsten Sender und Zeitungen zugunsten des Regimes Vučić.

46,75
Prozent der Stimmen erzielte Vučićs Partei nach Angaben der Wahlkommission an diesem Mittwoch. Das Oppositionsbündnis „Serbien gegen Gewalt“ soll lediglich 23,66 Prozent der Stimmen erreicht haben.

Das deutsche Auswärtige Amt ließ verlauten, dies sei für eine EU-Beitrittskandidatin wie Serbien „inakzeptabel“, was den Staatspräsidenten prompt zu Drohungen gegen die „Einmischungen eines wichtigen Landes“ veranlasste.

Nach Angaben der Wahlkommission an diesem Mittwoch, also mehr als zwei Wochen nach der Wahl, hat Vučićs Partei haushoch gewonnen. Sie kam demnach auf 46,75 Prozent der Stimmen, während das Oppositionsbündnis „Serbien gegen Gewalt“ 23,66 Prozent erreicht haben soll.

Am Tag vor Silvester war in dreißig Wahllokalen nachgewählt worden, weil dort kein Ergebnis zu ermitteln war. Für das Belgrader Rathaus will Vučić sowieso eine neue Wahl, falls dort, trotz der massiven Beeinflussung, weder seine Leute noch die Opposition eine Mehrheit bilden können.

Wie reagiert die Bevölkerung?

Seit dem Abend des 17. Dezember protestieren Tausende in Belgrad und im ganzen Land gegen das, was die Opposition einen „gestohlenen Sieg“ nennt. Die Hauptstadt wurde durch Straßenblockaden lahmgelegt, am 24. Dezember gab es sogar einen Versuch, das Rathaus von Belgrad zu stürmen.

Marinika Tepić, eine der Führungspersonen von „Serbien gegen Gewalt“ trat in einen Hungerstreik. Sie hat ihn in dieser Woche abgebrochen und erneuerte dabei ihre Forderung, diese Wahl müsse annulliert werden. Die Opposition boykottierte auch die 30 lokalen Nachwahlen vom 30. Dezember. Das Regime zeigt sich allerdings bisher unbeeindruckt.

In welcher Situation ist Serbien?

Serbien hat seit 2012 den Status einer EU-Beitrittskandidatin. Die Beziehungen nach Brüssel sind allerdings immer wieder durch den Kosovo-Konflikt gespannt, in dem Serbien sich als Schutzpatronin der serbischen Minderheit in der ehemaligen eigenen Provinz Kosovo geriert. Der Zwischenfall im Nordkosovo im September, als Milizen unter Führung eines Vertrauten von Vučić einen kosovarischen Polizisten erschossen, trugen zuletzt dazu bei.

30
lokale Nachwahlen waren am 30. Dezember nötig, weil dort kein Ergebnis zu ermitteln war. Die Opposition boykottierte diese 30 lokalen Nachwahlen.

Wirtschaftlich hatte Belgrad zuletzt mit Streiks zu kämpfen. Sie richteten sich gegen eine Inflation, die zeitweise auf Rekordniveau lag. Im Mai trieb der Tod von 18 Menschen durch Amokläufe Zigtausende zu Protesten auf die Straße. Unter anderem hatte ein Siebtklässler mit der Waffe seines Vaters neun Kinder an einer Belgrader Schule getötet. Die Protestierenden warfen dem Regime Vučić vor, für die allgegenwärtige Gewalt im Land verantwortlich zu sein, deren Opfer überproportional oft Frauen werden.

Nur im Jemen und in den USA gibt es mehr private Waffen pro Kopf als in Serbien. Den Sendern unter Vučićs Kontrolle wird vorgeworfen, Hass und Gewalt noch zu schüren. Vučić, der seit mehr als einem Jahrzehnt immer mehr Macht in Serbien auf sich konzentriert, hat nach Meinung von Kritiker.innen sogar den Sozialstaat zu seinem Instrument umgebaut und macht Sozialleistungen von Loyalität zu ihm abhängig.

Wer ist Aleksandar Vučić, wer stellt sich gegen ihn?

Der 53-jährige Machthaber begann seine Karriere unter Slobodan Milošević, der später im Gefängnis in Den Haag starb, während ein Kriegsverbrecherprozess gegen ihn lief. Vučić diente ihm als Informationsminister. Die demokratischen Kräfte aus dem linksliberalen, grünen und mitte-rechten Spektrum traten in einem breiten Bündnis „Serbien gegen Gewalt“ bei der Wahl im Dezember erstmals geeint gegen ihn an.

Als Slobodan Milošević Serbien regierte, hat der Westen, angeführt von den USA, den demokratischen Wechsel stark unterstützt. Dieses Engagement ist jetzt verschwunden.

Oppositionsführer Dragan Djilas redete den EU-Verantwortlichen in dieser Woche in einem Beitrag für das Magazin „Politico“ ins Gewissen.

Neben ihnen gibt es auch rechtsnationale und monarchistische kleine Parteien, die in Opposition zum Regime stehen. Zu den Führungspersönlichkeiten von „Serbien gegen Gewalt“ gehören unter anderem zwei Sozialdemokrat:innen, die frühere regionale Jugendministerin Marinika Tepić und Belgrads Ex-Bürgermeister Dragan Djilas. Djilas war als 22-Jähriger unter Miloševićs Herrschaft einer der Begründer des oppositionellen Senders B92.

Welche Rolle hat die EU in Serbien?

Trotz kritischer Töne nach dieser Wahl: Die EU könnte und müsste nach Auffassung der Opposition in Serbien mehr tun, um dem autokratischen Abdriften des Landes entgegenzutreten. Als Beitrittsland erhält Serbien – und damit die Herrschenden in Belgrad – nicht wenig Geld aus Brüssel. Auch demokratische NGOs und Forschende beklagen Europas Festhalten an vorgeblicher Stabilität vor Demokratie. „Stabilitocracy“ nütze stets den jeweiligen Machthabern, egal wie undemokratisch sie seien.

Der serbische Präsident Aleksandar Vučić

© dpa/KOCA SULEJMANOVIC

Die EU fürchtet den Wechsel des Landes ins Lager Russlands oder gar Chinas, Optionen mit denen Vučić bewusst spielt. Russlands Präsident gratulierte ihm zum Sieg, kaum dass er sich am Abend des 17. Dezember selbst dazu erklärt hatte, und betonte die alte Verbundenheit mit Serbien. Und als im Oktober ein Treffen mit EU-Offiziellen anstand, reiste Vučić stattdessen demonstrativ nach Peking.

Er weiß, wie wichtig sein Land geopolitisch und als Anker auf dem Balkan für die EU ist. Serbien ist zudem reich an Lithium, dem Rohstoff, ohne den kein E-Auto oder Smartphone läuft. Die Lithiumvorräte im Land werden als die größten Europas eingeschätzt.

Oppositionsführer Djilas redete den EU-Verantwortlichen in dieser Woche in einem Beitrag für das Magazin „Politico“ ins Gewissen: „Als Slobodan Milošević Serbien regierte, hat der Westen, angeführt von den USA, den demokratischen Wechsel stark unterstützt“, schrieb er. „Jetzt, da Serbien unter Präsident Vučić in Autokratie zurückfällt, scheint dieses Engagement verschwunden.“ Miloševićs Regime wurde durch militärische Angriffe der Nato beendet.

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