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© Tagesspiegel / European Focus

European Focus #63: Wachstumsschmerzen

Nach Hause gekommen +++ Zahl der Woche: 54,6 Prozent +++ (K)eine zweite Kaffeepause +++ Demokratie-Erweiterung +++ „Wir wissen aus Erfahrung, dass es nicht leicht wird“

Von Anton Semischenko

Hallo aus Kiew,

erinnern Sie sich einmal: Ist bei Ihnen damals ein neues Kind in die Klasse, in die Schule gekommen? Oft schüchtern, vielleicht seltsam, möglicherweise mit einem Hintergrund, den Sie (damals) nicht ganz verstehen konnten?

Einer eingeschworenen Gemeinschaft beizutreten ist in jedem Fall eine Herausforderung für Neuankömmlinge, aber auch für die bisherigen Mitglieder der Gruppe. Es ist stressig und anspruchsvoll für diejenigen, die gerade erst ankommen, und es erfordert nicht selten Kompromisse seitens der anderen. Und: Man kann nie vorhersehen, was dabei herauskommt. Vielleicht ist der Neue ja eine tolle Verstärkung für das lokale Basketballteam? Oder wird er die Atmosphäre im Klassenzimmer stören und Schwächere mobben?

Eine erfahrene Lehrkraft würde erklären, dass das Geheimnis in den angesetzten Regeln liegt: Wenn diese gut durchdacht sind, können sie die neue Menschen-Mischung zum echten Erfolg machen, von dem die Einzelnen ebenso profitieren wie die Gruppe als Ganzes. Unterschiede können eine Gruppe bereichern. Das wird ihnen auch jeder Diversity Manager sagen.

Genau wie eine solche Schulklasse soll nun auch die EU größer werden. Dies sei aus Sicherheits- und wirtschaftlichen Gründen eindeutig notwendig. Es wird schwierig, das ist klar. Sind die Regeln fein genug abgestimmt? Wie kann innerhalb des Systems verhindert werden, dass Mobber und Lügner erfolgreich sind? Wie kann erreicht werden, dass sich alle beteiligt fühlen?

Wir gehen diesen Fragen in dieser Ausgabe nach und hoffen, dass der EU-Block künftig Antworten darauf finden wird.

Anton Semischenko, dieswöchiger Chefredakteur

Nach Hause gekommen

„Wir sind zu Hause,“ heißt es in der Schlagzeile einer der leicht angegilbten Zeitungen, die ich seit 20 Jahren sorgfältig in einer Schachtel aufbewahre. Ihr Erscheinungsdatum – der 1. Mai 2004 – war für mich aus zwei Gründen symbolisch: Es war einerseits der Tag, an dem Ungarn der Europäischen Union beitrat, und andererseits der Tag, an dem ich begann, als Journalistin zu arbeiten.

Eine der Zeitungen, die ich aufbewahrt habe, ist die Sonderausgabe von Magyar Hírlap, mit der ich meine Karriere als Auslandsreporterin begann.

In den 20 Jahren seit der Veröffentlichung dieses Titelblatts hat sich viel verändert. Zum einen hat sich Magyar Hírlap in ein rechtes Propagandablatt verwandelt, während Népszabadság – die andere Zeitung, die ich behalten habe – auf Druck der Regierung eingestellt wurde.

Die Regierung hat nicht nur mein Berufsfeld vereinnahmt, sondern die ungarische Gesellschaft als Ganzes. Wenn ich heute auf den Straßen von Budapest offizielle Plakate sehe, auf denen „Brüssel“ Bomben wirft oder die Präsidentin der Europäischen Kommission als Marionette der Soros-Familie dargestellt wird, frage ich mich, ob die Menschen vergessen haben, was es eigentlich bedeutet, Teil der EU zu sein.

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Prozentpunkte ist die Unterstützung für die EU in Ungarn in den vergangenen Jahren gesunken. Die Regierungspropaganda zeigt Wirkung.

Die Regierungspropaganda zeigt Wirkung, denn die Unterstützung für die EU ist in Ungarn in den vergangenen Jahren um zehn Prozentpunkte gesunken.

Dennoch war die Titelgeschichte von vor zwei Jahrzehnten nicht falsch: Der Beitritt zur EU fühlte sich für die meisten Ungarinnen und Ungarn wie eine Heimkehr an. Für uns ging es bei der Erweiterung nicht nur um freies Reisen und mehr Chancen auf einen Arbeitsplatz im Ausland, sondern auch darum, unseren festen Platz als Nation in diesem Grenzgebiet zwischen Ost und West zu finden.

Natürlich brachte die Mitgliedschaft ihre eigenen Pflichten und Zugeständnisse mit sich; das gilt für beide Seiten. Ich bin aber der festen Überzeugung, dass Meinungsverschiedenheiten in gewissen Fragen, sei es Migration, Landwirtschaft oder Außenpolitik, gut für die europäische Gemeinschaft sind. Einen rhetorisch-symbolischen Krieg gegen das zu führen, wo wir doch schon immer hingehört haben, ist hingegen alles andere als gut.

Viktoria Serdült ist Journalistin beim Nachrichtenportal hvg.hu aus Budapest. Sie befasst sich mit der ungarischen Innen- und Außenpolitik, der Europäischen Union sowie sozialpolitischen Themen.

Zahl der Woche: 54,6 Prozent

2005 lehnten die Französinnen und Franzosen die Annahme der geplanten EU-Verfassung mit einer Mehrheit von 54,6 Prozent ab. Dabei hatte das Referendum zunächst als ausgemachte Sache gegolten: die Mitte-rechts- und Mitte-links-Parteien hatten klar für ein Ja geworben – nur die nationalistische Rechte und die radikale Linke waren dagegen.

Doch eine symbolische Figur brachte die Wende: der „polnische Klempner“. Ein Jahr nach der größten Erweiterung der EU benutzten Nationalisten diesen Ausdruck ständig, um Ängste vor der gefürchteten Einwanderung aus Osteuropa zu schüren. Die Polen, Tschechen oder Letten würden schließlich für deutlich niedrigere Löhne arbeiten. Diese Angst war einer der Hauptfaktoren für das französische „Nein“. Dabei hatten ausländische Arbeitnehmer nichts mit der europäischen Verfassung zu tun. Und: es kam auch nicht zur „Welle“ polnischer Klempner oder lettischer Maurer nach Frankreich.

Angesichts einer weiteren potenziellen EU-Erweiterung äußern Politiker und die mediale Öffentlichkeit in verschiedenen Mitgliedsländern nun erneut die Befürchtung, Arbeitskräfte und Waren aus künftigen EU-Mitgliedern könnten die lokalen Märkte „überschwemmen“. Genau wie im Frankreich der 2000er-Jahre könnte es aber durchaus sein, dass diese Befürchtungen nie wahr werden.

Nelly Didelot arbeitet im Auslandsressort von Libération in Paris. Sie befasst sich mit Mittel- und Osteuropa sowie mit Umweltthemen.

(K)eine zweite Kaffeepause

Beim EU-Gipfel im vergangenen Dezember gelang Bundeskanzler Olaf Scholz mit einer simplen Geste ein Coup: Nach einer ermüdenden Debatte über potenzielle Beitrittsgespräche mit der Ukraine lud er den blockierenden Ministerpräsidenten Ungarns, Viktor Orbán, zur Kaffeepause ein. Als Orbán nicht mehr im Raum war und somit nicht abstimmen musste, sprachen sich die anderen Mitgliedsstaaten für die Aufnahme der EU-Beitrittsgespräche mit der Ukraine aus.

In Nordmazedonien nahm man diesen Trick mit Verblüffung auf. Hätte nicht irgendjemand mal einem griechischen Premier oder der bulgarischen Staatsführung einen Espresso anbieten können, als diese sich fast drei Jahrzehnte lang gegen die Aufnahme von Gesprächen mit Nordmazedonien stellten?

Das Land hat seit 2005 den offiziellen Beitrittskandidatenstatus, kommt aber nicht voran. Die griechische Blockade gegen mazedonische Versuche, sich den europäischen und transatlantischen Institutionen anzuschließen, reicht gar in die frühen 1990er Jahre zurück. Grund dafür war lange Zeit der von vielen Beobachtern als „irrational“ angesehene griechisch-mazedonische Namensstreit.

Aktuell hält jedoch eher Bulgarien sowohl Nordmazedonien als auch Albanien „in Schach“. Es ist ein noch unlogischerer Streit, der auf Geschichte, Sprache und Identitätsfragen beruht. Sofia behauptet, das Mazedonische sei tatsächlich ein bulgarischer Dialekt und die Wurzeln des mazedonischen Volkes seien ebenfalls bulgarisch.

Die EU erlaubt es ihren Mitgliedsstaaten, ihren Platz im Block als Druckmittel gegen ihre [Nicht-EU-]Nachbarn einzusetzen. 

kritisierte Edi Rama, der albanische Premierminister jüngst auf der Münchner Sicherheitskonferenz. 

„Die EU erlaubt es ihren Mitgliedsstaaten, ihren Platz im Block als Druckmittel gegen ihre [Nicht-EU-]Nachbarn einzusetzen. Das ist das Antieuropäischste, was man sich vorstellen kann,“ kritisierte der albanische Premierminister Edi Rama jüngst auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Er zeigte sich sichtlich frustriert darüber, dass sein Land im Tandem mit Nordmazedonien an der Aufnahme von EU-Beitrittsgesprächen gehindert wird.

Angesichts der Aggression Putins und des ungarischen Missbrauchs seines Vetorechts, der Brüssel in [außenpolitische] Verlegenheit gebracht und weitgehend handlungsunfähig gemacht hat, hat eine Gruppe von neun Ländern im vergangenen Jahr erklärt, man wolle endlich das Vetorecht aus der außenpolitischen Entscheidungsfindung streichen.

Unter diesen Ländern waren auch die Schwergewichte Deutschland und Frankreich. Sie argumentieren, die Veto-Regel habe zu außenpolitisch schwachen Kompromissen geführt und die EU auf der globalen Bühne ineffektiv gemacht.

Fällt also die Einstimmigkeit? Für die Beitrittskandidaten aus dem westlichen Balkan, die unter Instabilität, Korruption, Populismus und ausländischen Einflüssen leiden, gibt es in dieser Hinsicht bisher keinen Grund zum Feiern. Denn eine Alternative zur Einstimmigkeitsregelung im Rat gibt es in den EU-Statuten bereits; die qualifizierte Mehrheit. Doch es bleibt ein Haken: Um das Einstimmigkeitsprinzip abzuschaffen, braucht es – Sie haben es erraten: eine einstimmige Entscheidung.

Und auch der Scholz’sche Kaffepausen-Trick dürfte nur einmal funktioniert haben.

Siniša-Jakov Marusic ist Journalist in Skopje. Er schreibt für Balkan Insight, vor allem über Rechtsfragen in der Balkan-Region.

Demokratie-Erweiterung

„Wir werden die Rechtsstaatlichkeitsberichte für die Beitrittsländer angehen, wenn diese noch schneller auf den neuesten Stand kommen. Dadurch werden sie mit den Mitgliedstaaten gleichgestellt.” (Ursula von der Leyen)

In der EU-Parlamentsdebatte zu ihrer jüngsten Rede zur Lage der Union hat die EU-Kommissionspräsidentin die Themen Erweiterung und Demokratie angesprochen. Das Thema ist akut, schließlich gelingt es der EU nicht einmal, die Rechtsstaatlichkeit unter ihren Mitgliedsstaaten durchzusetzen.

Von der Leyen, die eine zweite Amtszeit anstrebt, hat ihren guten Teil zu dieser Unfähigkeit beigetragen. Sie ließ sich nach den Wahlen in Ungarn im April 2022 sehr lange Zeit, bevor sie den „Konditionalitätsmechanismus“ auslöste (ein Druckmittel, das die Auszahlung von EU-Geldern von der Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit abhängig macht).

Kürzlich gab von der Leyen am Vorabend eines Gipfels des Europäischen Rates dann zehn Milliarden Euro der einbehaltenen Gelder für Viktor Orbán frei – als ob Werte verhandelbar seien.

Wenn die EU ein Gleichgewicht zwischen der Erweiterung ihrer Grenzen und der Stärkung demokratischer Werte wahren will, sollte sie zunächst damit beginnen, die Rechtsstaatlichkeit innerhalb des Blocks durchzusetzen.

Francesca De Benedetti berichtet für die Zeitung Domani aus Rom über europäische Politik und Auslandsnachrichten.

„Wir wissen aus Erfahrung, dass es nicht leicht wird“

Estlands Ministerpräsidentin Kaja Kallas warnt im Interview, dass einige Reformen, die die ukrainische Regierung für einen EU-Beitritt einleiten muss, im eigenen Land unpopulär sein werden.

Was meinen Sie, wo würde Estland heute stehen, hätte es damals nicht die Chance erhalten oder noch nicht bereit gewesen wäre, der EU beizutreten?

Wir würden uns definitiv in einer ganz anderen Situation befinden. Erstens wäre unser Wohlstand nicht derselbe wie heute. Seit den 1990er Jahren sind unsere Renten um das 65-fache und unsere Gehälter um das 35-fache gestiegen. Die andere Dimension ist die Sicherheit. Die Mitgliedschaft hat eine Wirkung – als Mitglied dieses Clubs sind wir nicht allein. Und: Wir treffen uns so oft mit anderen europäischen Staats- und Regierungschefs, dass wir zu Freunden werden.

Welche Ängste treibt die EU-Spitzen mit Blick auf weitere Beitritte, beispielsweise der Ukraine oder der Westbalkanstaaten, um?

Vor Jahren sprach ich mit dem heutigen portugiesischen Premierminister António Costa. Er erinnerte sich, wie vor dem portugiesischen EG-Beitritt in den 1980er Jahren [unter den bestehenden Mitgliedstaaten] die Angst vor dem „portugiesischen Klempner“ herrschte. Als wir beitraten, gab es die Angst vor dem „polnischen“ beziehungsweise „osteuropäischen Klempner“. Nun folgt entsprechend die Sorge vor dem „ukrainischen Klempner“. Diese Ängste haben sich jedoch nicht bewahrheitet; die wirtschaftliche Konvergenz hat den Lebensstandard angehoben, so dass es keinen Bedarf für eine derartige Migration im großen Stil gab.

Freilich gibt es Angst in Bezug auf die Korruption. Werden die [zukünftigen Mitgliedsstaaten] in der Lage sein, entsprechende Reformen durchzuführen? Im Falle der Westbalkanländer stellt sich auch die Frage der Kriminalität. Eine weitere Sorge sind Entwicklungen, die wir heute in Ungarn sehen. Da gibt es viele Probleme. Daher die Frage: Wenn so viele neue Länder beitreten, was wird das für die Entscheidungsfindung innerhalb der EU bedeuten?

Wie sollten Politiker in diesen Ländern die Hoffnungen ihrer Bürgerinnen und Bürger abwägen und koordinieren? Einige Staats- und Regierungschefs der Beitrittskandidaten behaupten, sie könnten schon in zwei Jahren beitrittsbereit sein…

Unser eigener Beitritt hat acht Jahre gedauert. [Ein EU-Beitritt] erfordert harte Reformen, die unpopulär sind. Und sie erfordern die Einsicht der Menschen, dass diese Reformen im Interesse einer besseren Zukunft durchgeführt werden müssen. Wir wissen aus Erfahrung, dass das nicht leicht ist und nicht leicht sein wird.

Herman Kelomees ist Redakteur im Ressort Politik bei Delfi und Eesti Päevaleht aus Tallinn.

Danke, dass Sie die 63. Ausgabe von European Focus gelesen haben.

Dies war unsere vorerst letzte Ausgabe. Wir hoffen, dass Sie im Herbst wieder von uns hören werden – mit neuen Fördermitteln und vielen neuen Ideen im Rücken.

Das Team von European Focus hat nun knapp zwei Jahre viel Zeit miteinander verbracht. Seit der Veröffentlichung des ersten Newsletters im September 2022 haben wir jede Woche eng zusammengearbeitet, um aus unseren nationalen Blasen herauszutreten, gemeinsame Themen zu besprechen und unsere in der ersten Ausgabe formulierten Hoffnungen und Ziele zu erreichen.  

In den vergangenen 18 Monaten haben fast 80 Journalistinnen und Journalisten aus 23 Ländern zu diesem paneuropäischen Dialog beigetragen.

Wir hatten unsere Differenzen, manchmal waren Leute sehr beschäftigt, es war insgesamt alles andere als einfach, eine Produktionsroutine über fünf wöchentlich wechselnde Länder hinweg zu organisieren. Doch dabei haben wir auch gelernt, dass wir viel mehr gemeinsam haben, als wir dachten.

Eine solche Kooperation mag manchmal stressig sein, macht aber immer Spaß. Es gab viele „Aha“-Momente. Unterschiede machen uns stärker und bringen uns näher zusammen. Das Wichtigste: wir haben ganz bewusst angefangen, über das gemeinsame „Uns“ statt immer über „die Anderen“ zu sprechen. 

Denn wir sitzen alle in einem, alle im selben Boot.

Gyula Csák, Boróka Parászka und Judith Fiebelkorn, Redaktionskoordinatoren des European Focus.

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

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