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© Tagesspiegel / European Focus

European Focus #40: Links liegen geblieben?

+++ Rechtsruck (vorerst) verhindert +++ Zahl der Woche: 9 +++ Take a walk on the left side +++ Die iberische Ausnahme +++ Mit neuer Kapitänin aus der Seenot +++

Hallo aus Tallinn,

in meiner Heimat nannte sich die Sozialdemokratische Partei bis 2004 „Die Moderaten“. Kurz nach dem Ende der Sowjetunion wollte man in Estland offensichtlich nicht mit Sozialismus in Verbindung gebracht werden – von Kommunismus ganz zu schweigen. Wobei dies vielerorts in Osteuropa immer noch ein Thema zu sein scheint: In der Ukraine wurden zahlreiche kommunistische, sozialistische und andere linke Parteien verboten.

Ich persönlich würde mir eine neue Linke wünschen, in der Hoffnung, dass diese vor allem die Sorgen der enttäuschten Bürgerinnen und Bürger, die sich sonst nach rechts wenden könnten, adressiert. Gleichzeitig spielt auch hier die lokale Komponente mit. Denn in der heutigen europäischen Politik ist die Rechte oftmals das, was die ukrainische Linke früher einmal war: Kreml-freundlich.

Ich war eine Zeit lang Juror bei Debattier-Wettbewerben in Schulen und muss sagen: Die Argumentation der Rechten bei Themen wie Klima, Wirtschaft und Minderheitenrechten ist furchtbar. Die Kinder, die ich damals in den Wettbewerben bewerten sollte, konnten diese Argumente mit links und in Sekundenschnelle zerlegen. Umso trauriger ist es, dass viele konservative Parteien in Europa nun versuchen, mit ähnlich schlechten Argumenten zu punkten.

Ich hoffe, Sie können in dieser Newsletter-Ausgabe – unabhängig von Ihren eigenen Ansichten – einige ansprechende „Rezepte“ für eine in Zukunft ausgeglichene politische Balance in Europa finden.

Herman Kelomees, dieswöchiger Chefredakteur


Rechtsruck (vorerst) verhindert

Spanien tendiert nach rechts, aber nicht genug für eine Mehrheit, sagt Jaime Coulbois, spanischer Politologe.

© Privat

Bei den Parlamentswahlen in Spanien am 23. Juli haben die Konservativen die meisten Sitze gewonnen, allerdings nicht genug, um allein eine Regierung zu bilden. Nun droht eine politische Pattsituation – und möglicherweise eine Neuauflage der vorherigen sozialdemokratisch-linken Regierung mit Unterstützung zahlreicher Kleinst- und Regionalparteien.

Im Interview spricht der spanische Politanalyst Jaime Coulbois über den Wahlausgang und die Gründe für dieses Ergebnis.

Die Wahlergebnisse vom vergangenen Wochenende haben viele überrascht, inklusive der Meinungs- und Wahlforscher. Was ist passiert?

Bevor ich das beantworte, sollte ich zugeben: Bis zum Sonntag war auch ich davon überzeugt, dass die [konservative] Partido Popular (PP) und die [rechtsradikale] Vox gemeinsam eine absolute Mehrheit erreichen würden.

Es sieht aber so aus, dass sich die bisherige Regierungspartei, die sozialdemokratische PSOE, erfolgreich gegen den Rechtsruck wehren konnte. Offenbar hat die mögliche Koalition der Konservativen mit den Rechtsradikalen bei einigen Wählerinnen und Wählern für Angst, und in diesem Zuge für eine „taktische Stimme“ für die PSOE, gesorgt.

Hinzu kommt: Hätten die Regionalparteien wie Bildu, die ebenfalls links stehen, aber eben auch für ein unabhängiges Baskenland eintreten, oder die katalanischen Nationalisten im Wahlkampf verstärkt auf Unabhängigkeit und Abspaltung gedrängt, hätte dies die Situation für Premier Pedro Sánchez (PSOE) deutlich schwieriger gemacht. Da dies ausgeblieben ist, wirkten diese „Links-Nationalisten“ sehr viel vernünftiger und koalitionsfähiger, als die Vox sie gerne darstellt.

Als Pedro Sánchez 2019 siegte, wurde von einer „Roten Welle“ in Spanien und Europa geschrieben. Nach seiner Niederlage in den Kommunalwahlen im Mai schien es hingegen, dass die Rechte nun wiedererstarken würde – was auch nur sehr bedingt eingetreten ist…

Man sollte schon festhalten, dass es in Spanien einen Trend nach rechts, auch nach ganz rechts, gibt. Damit kann man zwar offensichtlich keine große Mehrheit gewinnen und nicht die Regierung stellen. Dennoch beobachten wir Tendenzen, die noch vor wenigen Jahren praktisch undenkbar gewesen wären, von einem spanischen Nationalismus hin zu einer Renaissance franquistischer Ansichten.

Der Rechtsruck in Spanien ist weitgehend ausgeblieben, während es im Rest Europas anders aussieht. Warum ist das so?

Zunächst: Die eben beschriebenen Diskurse und neuen Entwicklungen nach rechts mögen auch in Spanien schon vorher im Verborgenen geschwelt haben und sind nun etwas mehr ans Tageslicht gekommen. Das kann aber offenbar von der Mehrheitsmeinung abgefangen werden. Spanien ist im europäischen Vergleich ein außergewöhnlich tolerantes Land in Bezug auf LGBT-Rechte und auch die Debatte um Migration unterscheidet sich bei uns vom Rest Europas.

Hier gibt es nicht diese starken kulturellen, sprachlichen und religiösen Widersprüche und Kämpfe, die sich in anderen Staaten zeigen. Es kann aber freilich auch sein, dass die Probleme beim Thema Immigration ebenfalls noch nicht vollends zutage getreten sind.

Alicia Alamillos ist Journalistin mit Fokus auf internationale Nachrichten bei El Confidencial aus Madrid.


Zahl der Woche: 9

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© Karolina Uskakovych

Neun politische Parteien mit den Bezeichnungen „kommunistisch“, „sozialistisch“ oder lediglich „links“ im Parteinamen sind seit der ukrainischen Unabhängigkeit 1991 im Land verboten worden; sechs davon in den vergangenen eineinhalb Jahren seit Beginn der russischen Invasion.

Nach der Wende pflegten viele ukrainische Linke ihre Beziehungen nach Moskau und warben teils offen für eine prorussische Politik. Spätestens – und insbesondere – mit Ausbruch des Krieges ist eine solche Haltung im Land diskreditiert.

Leider trifft das harte Durchgreifen auch die ukrainischen Bürgerinnen und Bürger. Schließlich gibt es aktuell keine einzige Partei mehr, die seit Längerem eine konsequent linke Politik betreiben würde. Parteien der Mitte und des rechten Flügels neigen hingegen dazu, Themen wie soziale Gerechtigkeit oder Arbeitnehmerrechte nicht genügend Aufmerksamkeit zu schenken.

Daher stehen ernsthafte Diskussionen über soziale Themen in der Ukraine aktuell nicht auf der politischen Tagesordnung.

Anton Semischenko ist Redakteur bei der englischsprachigen Version der Nachrichten-Website babel.ua aus Kiew.


Take a walk on the left side

11. Juli 2023: Greta Thunberg demonstriert zusammen mit Umweltaktivisten vor dem Europäischen Parlament für das Renaturierungsgesetz.

© AP Photo

Jetzt, wo die EU-Parlamentswahlen 2024 näher rücken, stelle ich mir immer wieder eine Frage: Wurde jemals eine echte progressive Alternative zum Rechtsruck in Europa in Angriff genommen? Vielleicht beschäftigt mich dieses Thema auch deswegen so sehr, weil ich an einem besonderen Ort lebe und schreibe: in Meloni-Land.

Schon bevor sie Italiens Ministerpräsidentin wurde, hatte Giorgia Meloni es geschafft, eine taktische Allianz mit der Europäischen Volkspartei (EVP) zu schmieden. Diese dem Selbstverständnis nach Konservativen (man spricht auch gern von „Mitte“ oder „moderat-rechts“) haben bewusst die viel zitierte Brandmauer nach rechts eingerissen und die radikale Rechte immer weiter normalisiert.

Bei den Wahlen im kommenden Jahr könnte die EU nun weit nach rechts rücken. Angesichts dieses Szenarios würde man von „der Linken“ eine wirksame und geschlossene Reaktion erwarten.

Wenn sich Progressive zusammenschließen, hat dies oft Erfolg. In Spanien hat das Duo Sánchez-Díaz den Rechtsruck abgewendet. Im Europäischen Parlament hatten sich die Sozialdemokraten, die Grünen, die Linke und die Liberalen eine Mehrheit gebildet, die alle rechten Attacken auf den Green Deal abwehrte. Das französische Linksbündnis Nupes hat bei den Wahlen im vergangenen Sommer ein sehr solides Debüt hingelegt. Der Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit sowie Klimagerechtigkeit kann offenbar Wählerpotenzial mobilisieren.

Das Problem liegt bei den zaudernden Parteispitzen. Auf EU-Ebene baut die Vorsitzende der Sozialdemokraten (S&D), Iratxe García Pérez, nach wie vor auf eine Große Koalition mit der EVP – obwohl deren Vorsitzender Manfred Weber in der Vergangenheit immer wieder Meloni toleriert und somit zur Normalisierung der radikalen Rechten in Europa beigetragen hat.

Selbst im rechten Epizentrum Italien zeigt sich die Opposition schwach und unorganisiert. Ohne die internen Spaltungen und Streitigkeiten bei den Gegnern hätte Melonis Truppe nicht so leicht die Regierung übernehmen können.

Nun, wo wir eine Orbánisierung Italiens erleben, scheint die sozialdemokratische Partito Democratico aufgewacht und sich gezwungen zu sehen, eine Veränderung einzuläuten: Die Kampfabstimmung um die Parteiführung gewann Elly Schlein, die mit dem Versprechen angetreten war, der Linken im Land neues Leben einzuhauchen. Der Vorschlag für einen Mindestlohn, der von allen Oppositionskräften unterstützt wird, ist ein erstes positives Signal.

Es bleibt abzuwarten, inwieweit die Linke – in Italien und in der EU – in der Lage sein wird, neuen Schwung zu bekommen.

Francesca De Benedetti berichtet für die Zeitung Domani aus Rom über europäische Politik und Auslandsnachrichten.


Die iberische Ausnahme

Der spanische und der portugiesische Premierminister Pedro Sánchez und António Costa beim Händchenhalten auf Lanzarote, Spanien.

© Twitter

„Pedro Sánchez ist nicht nur ein Freund und Partner; er ist jemand, mit dem ich in den vergangenen Jahren sehr eng zusammengearbeitet habe, sei es bei der „iberischen Ausnahme“ bei den Energiepreisen oder bei unseren gemeinsamen Kämpfen um ein Programm für den Strukturwandel unserer Volkswirtschaften.“ António Costa

Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern Europas wird die radikale Rechte auf der Iberischen Halbinsel nicht an Regierungen beteiligt sein – zumindest nicht in naher Zukunft.

Bei der letzten Wahl in Portugal im Jahr 2022 erhielt die Sozialistische Partei von António Costa eine absolute Mehrheit und führte ihre Regierung fort. Seitdem wird sie aber sowohl von links als auch von rechts kritisiert. Korruptionsfälle, Inflation und mangelnder Tatendrang bei der Bewältigung der Immobilienkrise haben dazu geführt, dass 52 Prozent der Portugiesinnen und Portugiesen der Meinung sind, die Regierung habe bisher „schlecht“ oder „sehr schlecht“ gearbeitet.

Könnte dies bedeuten, dass es bei den nächsten Wahlen auch in Portugal zum Rechtsruck kommt?

Bisher sieht es nicht danach aus: 63 Prozent der Portugiesen lehnen ein Wahlbündnis zwischen der konservativen PSD und der rechtsradikalen Chega ab. Der PSD-Vorsitzende Luís Montenegro bekräftigte erst am Wochenende erneut, mit ihm werde es ein solches Bündnis nicht geben.

Für den Moment bleibt es somit bei der iberischen Ausnahme.

Der Journalist Jonás Romero lebt in Lissabon und arbeitet dort als Korrespondent für die spanische Zeitung El Confidencial.


Mit neuer Kapitänin aus der Seenot

Carola Rackete, Kapitänin von Sea Watch 3, Klimaaktivistin und jetzt Kandidatin für das Europäische Parlament.

© Raimond Spekking

Wird eine Seenot- und Öko-Aktivistin Deutschlands Linke aus dem Sturm führen? Am 17. Juli gab die Führung der Linkspartei bekannt, dass Carola Rackete eine der vier Spitzenkandidatinnen der Partei für die Wahlen zum Europäischen Parlament 2024 sein wird. Für die Linke war es ein Coup. Rackete war 2019 international berühmt geworden, als sie als Kapitänin des Seenotrettungsschiffs Sea Watch 3 mit 53 Migranten an Bord in den Hafen von Lampedusa einlief, obwohl die italienischen Behörden ihr das Anlegen verboten hatten. Rackete ist außerdem Klimaforscherin und -aktivistin.

Die Partei Die Linke steckt seit Jahren in der Krise. Grund dafür sind vor allem interne Streitigkeiten. So stehen auf der einen Seite junge, akademisch geprägte Linke aus den Städten, für die die Themen Klimawandel, LGBTIQ-Rechte und die Unterstützung von Geflüchteten wichtig sind. Auf der anderen Seite gibt es die ältere Generation, die sich eine stärkere Konzentration auf die Arbeiterrechte wünscht.

Viele der Letzteren fühlen sich von der Ex-Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht vertreten, die gegen die jüngere Generation als „Lifestyle-Linke“ polemisiert und Angela Merkel für ihre Migrationsentscheidung 2015 scharf kritisiert hatte. Wagenknechts öffentliche Äußerungen stehen nicht selten in offenem Widerspruch zur offiziellen Parteilinie. Diese Konflikte haben dazu geführt, dass Die Linke nicht nur Wählerstimmen, sondern auch viele Mitglieder verloren hat. Seit einigen Monaten kokettiert Wagenknecht immer wieder öffentlich mit der Idee, ihre eigene Partei zu gründen. 

Lange Zeit schien es, als gelänge der Parteiführung nicht, diese Streitigkeiten nicht einzudämmen. Nun bewegt sich etwas: Am 10. Juni forderte die Führung Wagenknecht auf, ihr Bundestagsmandat niederzulegen. Die Nominierung von Carola Rackete könnte ein weiterer Meilenstein in dieser neuen Richtung sein. Mit ihrem Fokus auf Themen wie Klimaschutz und offene Grenzen steht Rackete für das genaue Gegenteil von Sahra Wagenknecht.

Teresa Roelcke ist Journalistin beim Tagesspiegel aus Berlin.


Danke, dass Sie die 40. Ausgabe von European Focus gelesen haben.

Das Ergebnis der Wahlen in Spanien lässt sich so lesen, dass die Zeit der großen Volksparteien noch nicht vorbei ist und dass die „alte“ politische Balance in Europa noch nicht ausgesorgt hat.

Ich halte Balance für wichtig. Unabhängig von Ihren persönlichen politischen Ansichten hoffe ich, dass diese Ausgabe Sie zum Nachdenken angeregt hat, ob in den politischen Debatten nicht die ein oder andere gute Sichtweise fehlt. Vielleicht sind/wären Sie ja sogar selbst davon betroffen.

Wir freuen uns über Ihre Gedanken, Anregungen und Kritik. Schreiben Sie uns gerne an info@europeanfocus.eu!

Bis nächste Woche!

Herman Kelomees

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

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