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Die Konferenz von Évian war ohne Ergebnis zu Ende gegangen. Hier der US-amerikanische Delegationsleiter Myron C. Taylor am 7. Juli.

© imago/United Archives International/TopFoto

Heute vor 85 Jahren: Die Rettung jüdischer Flüchtlinge wurde zur moralischen Katastrophe

Eigentlich wollte die Staatengemeinschaft den jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland und Österreich helfen. Doch die Konferenz 1938 in Frankreich endete ergebnislos.

Eine Kolumne von Jan Kixmüller

Spätestens seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland wurden jüdische Mitbürger verfolgt. Die Nürnberger Rassegesetze vom 15. September 1935, mit denen der NS-Staat die Diskriminierung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung legitimierte, waren eine Vorstufe zum Holocaust. Das alles fand unter den Augen der Weltöffentlichkeit statt.

Auch der weltoffene Anstrich der Olympischen Spiele in Berlin 1936 konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine systematische Verfolgung der deutschen Juden stattfand, die schließlich in der Ermordung der europäischen Juden gipfeln sollte.

Bereits mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 war die Zahl der jüdischen Emigranten stark angestiegen. Im Ausland war man besorgt über die vielen Menschen, die eine neue Heimat suchten. Mit der wachsenden Zahl der Flüchtlinge sank auch die Aufnahmebereitschaft der möglichen Zielländer. Um die soziale Lage in Palästina zu beruhigen, verhängten die Briten im November 1937 rigide Aufnahmebeschränkungen, obwohl den Juden dort eine „nationale Heimstätte“ versprochen worden war.

Angesichts der rapide ansteigenden Flüchtlingszahlen von Juden aus Deutschland und Österreich wurde schnell klar, dass es einer internationalen Vereinbarung bedurfte, um die Situation in den Griff zu bekommen. Die USA ergriffen die Initiative und schlugen eine internationale Konferenz vor.

Die Konferenz geriet zur Farce

Am 6. Juli 1938, heute vor 85 Jahren, trafen sich Vertreter von 32 Staaten und 71 Hilfsorganisationen im französischen Kurort Évian-les-Bains. Führende Vertreter der Zionistischen Weltorganisation waren nicht anwesend. Das ursprüngliche humanitäre Ziel, den rund 500.000 möglichen Flüchtlingen aus Deutschland und Österreich zu helfen, trat schnell in den Hintergrund. Vertreter einiger Staaten deuteten an, ihrerseits jüdischer Menschen aus ihren Ländern ausweisen zu wollen, offenbar aus eigenen nationalistischen und antisemitischen Motiven.

Plötzlich ging es um möglicherweise mehrere Millionen jüdischer Menschen, die auf andere Länder hätten verteilt werden sollen. Die Konferenz geriet zur Farce und endete am 15. Juli 1938 weitgehend ergebnislos, da sich bis auf die Dominikanische Republik sämtliche Teilnehmerstaaten weigerten, weitere jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Das NS-Regime schlachtete das Scheitern der Konferenz für die antisemitische Propaganda aus („niemand will sie haben“).

Kinder polnischer Juden aus dem Gebiet zwischen Deutschland und Polen bei ihrer Ankunft mit der „Warschau“ im Februar 1939 in London.
Kinder polnischer Juden aus dem Gebiet zwischen Deutschland und Polen bei ihrer Ankunft mit der „Warschau“ im Februar 1939 in London.

© Bundesarchiv, Bild 183-S69279 / CC-BY-SA 3.0

Die Frage, ob die Staatengemeinschaft durch mangelnde Aufnahmebereitschaft versagt hatte, bewerten Historiker:innen heute unterschiedlich. Die These des Historikers Ralph Weingarten, dass „alle Völker der Welt auch an der Endlösung und deren Ausmaß voll mitschuldig“ gewesen seien, ist heftig umstritten. Nicht zuletzt, weil sie die Verantwortung des NS-Staates verharmlose, wie andere Historiker anmerkten.

Weitgehender Konsens besteht hingegen darüber, dass der Ausgang der Konferenz eine moralische Katastrophe war. In Évian sei die Vorentscheidung über das Schicksal der deutschen Juden gefallen, so der Historiker Jochen Thies. 

Die westlichen Demokratien hätten versagt, denn ein anderer Ausgang hätte viele Juden vor dem Holocaust bewahren können. Ob dem so war, lässt sich im Nachhinein schwer sagen. Fest steht jedoch, dass die Judenverfolgung nicht einmal ein halbes Jahr nach dem Scheitern der Konferenz mit der Pogromnacht eine neue Stufe ihres Grauens erreichte.

Lesen Sie alle bisher erschienenen Folgen der „Tagesrückspiegel“-Kolumne hier.

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