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Bundestrainer Julian Nagelsmann und Joshua Kimmich hatten gute Gründe für ihr Missvergnügen.

© imago/Laci Perenyi/imago/Laci Perenyi

Die deutsche Nationalmannschaft sieben Monate vor der EM: Auch Julian Nagelsmann kann nicht zaubern

In seinem dritten Länderspiel als Bundestrainer kassiert Bundestrainer Julian Nagelsmann seine erste Niederlage. Die Probleme lassen sich nicht durch Handauflegen beseitigen.

Julian Nagelsmann ist, wie viele erfolgreiche Trainer, ein extrem schlechter Verlierer. Niederlagen nimmt er persönlich, und schon deshalb ist für ihn ein Antrieb, Niederlagen mit aller Macht zu verhindern. Misslingt ihm das, dann fällt es dem 36-Jährigen schwer, das Unerträgliche zu akzeptieren. Nagelsmann flüchtet sich dann gerne in den Konjunktiv.

So war es auch nach der 2:3-Niederlage der deutschen Fußball-Nationalmannschaft gegen die Türkei im Berliner Olympiastadion. Der Handelfmeter, der den Gästen den Siegtreffer einbrachte, war für Nagelsmann natürlich keiner. Fußballerisch besser seien die Türken nicht gewesen, sie hatten auch „nicht mehr Chancen als wir, eher weniger“, sagte der immer noch neue Bundestrainer, der acht hundertprozentige Chancen für sein Team gezählt haben wollte.

Sein Überschwang wirkte nach dem Spiel ein wenig deplatziert. Das galt auch für die Bewertung von Kai Havertz, den Nagelsmann als linken Außenverteidiger aufgeboten hatte. Eine scheinbar absurde Idee. Aber der Bundestrainer sah das anders. Er wollte seinen Einfall nicht als Notlösung verstanden willen, sondern als tragfähiges Modell für die Zukunft. Über Defizite in der Defensive – falsche Positionierungen, ungelenke Defensivzweikämpfe – sah er bei Havertz gnädig hinweg.

„Die Überzeugung, dass er das kann, habe ich schon länger“, sagte Nagelsmann. „Er hat es Weltklasse gemacht, war extrem fleißig, hat ein Tor gemacht, hat offensiv viel bewegt, war viel unterwegs.“ Im Übrigen habe Havertz ja keinen klassischen Linksverteidiger gegeben, erklärte der Bundestrainer. „Von der Heatmap her war er eher ein linker Zehner.“

Von der falschen Neun zur falschen Drei: Nagelsmann sieht in dieser Rolle für Kai Havertz die Chance, sich dauerhaft in der Nationalmannschaft festzuspielen und, aus der Tiefe kommend, den „offensiven Joker“ zu geben. Mit dieser Aussicht machte der Bundestrainer dem 24-Jährigen die ungewohnte Position schmackhaft. Letztlich durfte der Spieler dann selbst entscheiden, ob er sich damit anfreunden könne.

Nagelsmann wirkte regelrecht verliebt in seine Idee. Als Linksverteidiger könne Havertz bei der Heim-EM im kommenden Sommer eine tragende Rolle spielen, ja sogar einer der Topspieler des Turniers werden, erklärte er. „Mit der Chance sollte man einmal ins Bett gehen, aufwachen und sagen: ,Okay, ich mach das.‘ Genauso hat er das gemacht.“

Er hat es Weltklasse gemacht, war extrem fleißig, hat ein Tor gemacht, hat offensiv viel bewegt, war viel unterwegs.

Bundestrainer Julian Nagelsmann über Kai Havertz

Ideen zu haben, auf die der stinknormale Fußballfan selbst nach dem exzessiven Verzehr hochprozentigen Alkohols nicht kommen würde, das zählt zum Selbstverständnis des Trainers Julian Nagelsmann. Die Frage ist, ob er seiner Mannschaft in ihrer Selbstfindungsphase damit einen Gefallen tut. Das Team frönte auch am Samstag wieder seinem Hang zur Verspieltheit. Etwas mehr Klarheit wäre da vermutlich nicht verkehrt.

Zumal Nagelsmann selbst die Defensive vor den letzten beiden Länderspielen des Jahres zum wichtigsten Thema ernannt hatte. Da erscheint es eher kontraproduktiv, eine Position in der Abwehr mit einem gelernten Offensivspieler zu besetzen. „Wenn es heißt, der Fokus liegt auf der Defensive und man kassiert drei Gegentore, dann muss man sich weiter fokussieren“, sagte Thomas Müller mit Blick auf die Partie am Dienstag gegen Österreich. „Wir lassen uns nicht unterkriegen. Es ist unser Job, dass wir weitermachen.“

Dem Team fehlt es an Konsequenz

Nicht nur hinten, auch vorne ließen die Deutschen die nötige Konsequenz vermissen. Neu ist dieses Phänomen nicht. In der Anfangsphase wirkte die Nationalmannschaft weitgehend unbeeindruckt, sowohl von der Wucht des türkischen Pressings als auch von der Wucht der türkischen Fans auf den Rängen.

„Wir haben schon gut angefangen. Haben wir zumindest gedacht. War auch so“, sagte Müller. Die Deutschen hatten die Kontrolle, sie gingen früh in Führung, und sie hatten in der Folge die Chancen, um diese Führung auszubauen.

„Wir können das Spiel sehr schnell zumachen oder zumindest die Weichen dafür stellen, dass das Spiel sehr schnell zugeht“, sagte Nagelsmann. Stattdessen habe man einen Spalt gelassen, „wo der Gegner noch mal durchgehen kann“.

Schon bei der WM vor einem Jahr, vor allem bei der Niederlage gegen Japan, ist der Nationalmannschaft ihre Nonchalance zum Verhängnis geworden. „Einige Spieler hatten nicht diese hundertprozentige Überzeugung, diesen Willen – das kann man nennen, wie man will“, sagte der Bundestrainer.

Nagelsmann machte die mangelnde Emotionalität im Vergleich zu den Türken verantwortlich für die erste Niederlage in seinem dritten Spiel als Bundestrainer. Der Zauber des Neubeginns ist erst einmal verflogen, auch wenn Nagelsmanns Wirken am Ende nicht daran gemessen werden wird, ob er sieben Monate vor der EM ein Testspiel gegen die Türkei verloren hat. „Wir können jetzt wieder anfangen, alles schwarzzumalen und alles schlecht zu sehen“, sagte er. „Aber dann werden wir nicht weiterkommen als Fußballnation.“

Trotzdem passte die Niederlage den Deutschen gleich doppelt nicht in den Kram: zum einen, weil sie die Fortschritte seit dem Trainerwechsel erst einmal in Frage stellte; zum anderen, weil sich die Mannschaft irgendwie in ihrer Ehre verletzt fühlte. Gewurmt habe es ihn, dass die türkische Übermacht im Olympiastadion ausgelassen feiern konnte, erklärte Thomas Müller: „Wir wollten den Fans eigentlich zeigen, dass sie für die falsche Flagge hier singen und pfeifen. Wir wollten zeigen: Hey, so nicht!“

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