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Schwarz und weiß? Oder doch besser grau? So sieht unsere Illustratorin das Thema.

© Illustration: Martha von Maydell / mvmpapercuts.com

Wut und Weltbild: Drei Mythen über Polarisierung in Deutschland

Deutschland, ein polarisiertes Land? So einfach ist es nicht. Über drei falsche Mythen und drei Lösungsideen. Ein Essay.

Polarisierung. Kaum ein Konzept wurde in letzter Zeit häufiger als Erklärung für den Zustand der deutschen Gesellschaft verwendet. In der Tat ist Polarisierung ein starkes Narrativ. Doch starke Narrative verleiten oftmals zur Verallgemeinerung. Im Folgenden werden drei weitverbreitete Mythen über Polarisierung in Deutschland betrachtet, Fehlannahmen herausgearbeitet und drei Lösungsansätze für ein besseres Vorgehen vorgestellt.

Mythos I: Deutschland ist ein hoffnungslos polarisiertes Land

Bei fast allen Themen stehen sich zwei Seiten unversöhnlich gegenüber: Meinungen zu Klimawandel, gendergerechter Sprache, Lockdown-Maßnahmen und Migration. Politische Forderungen driften immer weiter auseinander und verwandeln die Debatte in ein Nullsummenspiel. Deutschland ist ein polarisiertes Land.

Diese Analyse, so einleuchtend und intuitiv sie erscheint, ist zu einfach. Studien zeigen, dass Deutschland derzeit weniger polarisiert ist, als die mediale Lautstärke vermuten lässt.

In Deutschland konnte man die Situation der Parteien vor der Bundestagswahl kaum als polarisiert charakterisieren. Stattdessen spekulierten Beobachterinnen und Beobachter über Koalitionen quer durch das politische Spektrum.

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Laut Populismusbarometer der Bertelsmann Stiftung von 2020 ist Populismus rückläufig. Dies ist deswegen relevant für Polarisierung, da populistische Tendenzen die Gesellschaft oft in zwei Lager aufteilen, ein „wahres Volk“ gegen die „korrupten Eliten“. Doch in dem Bericht heißt es: „Aktuell sind nur noch etwa zwei von zehn Wahlberechtigten in Deutschland (20,9 Prozent) populistisch eingestellt. Das sind 11,8 Prozentpunkte weniger als im November 2018 (32,8 Prozent).“

[Lesen Sie mehr bei Tagesspiegel Plus: Städte-Chefs im Interview - „Die Radikalisierung in der Gesellschaft trifft uns besonders“]

Zudem zeigt eine Studie von More in Common (2019) mit 4000 Teilnehmenden, dass sich die deutsche Gesellschaft nicht in zwei Pole, sondern drei Lager aufteilt: die gesellschaftlichen Pole, die Unsichtbaren und die Stabilisatoren. Innerhalb des Drittels der gesellschaftlichen Pole stehen sich zwei Gruppen unversöhnlich gegenüber. Zum einen gibt es „die Wütenden“, die das System ablehnen und Eliten misstrauen. Zum anderen finden sich „die Offenen“, die Weltoffenheit, Kompromissbereitschaft und politischen Austausch predigen. Das sogenannte „unsichtbare Drittel“ der Bevölkerung umfasst diejenigen, die sich einsam und vom politischen System distanziert fühlen. Das letzte Drittel hingegen besteht aus gesellschaftlichen Stabilisatoren, die sich mit der Gesamtlage größtenteils zufrieden zeigen und gut in die Gesellschaft integriert fühlen. Insgesamt wünschen sich zudem 70 Prozent der Befragten einen starken gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland, trotz Differenzen. Polarisierung sieht anders aus.

Das Problem ist also weniger Polarisierung per se, sondern dass ein Drittel der Gesellschaft sich immer weniger in der Politik wiederfindet, während ein anderes Drittel dafür umso lauter und hasserfüllter gegeneinander antritt.

Mythos II: Soziale Medien sind das Hauptproblem

Noch vor ein paar Jahren wurden soziale Medien als Chance für mehr Demokratie gesehen. In der Tat haben Online-Plattformen dazu beigetragen, dass marginalisierte Teile der Bevölkerung ihre Stimme mit mehr Einfluss geltend machen können. Gleichzeitig ist besonders in den vergangenen Jahren aber immer deutlicher geworden, dass soziale Medien Hass, Hetze und radikale Ansichten verstärken.

Tatsächlich sind soziale Netzwerke machtvolle Werkzeuge, die Radikalisierung beschleunigen und Extremisten in die Hände spielen können. Studien haben schon 2014 gezeigt, dass YouTube seinen Nutzerinnen und Nutzern immer radikalere Inhalte empfiehlt. Und erst 2020 musste Facebook laut einer Recherche der Washington Post zugeben, dass 64 Prozent aller Beitritte zu extremistischen Gruppen online auf seine Empfehlungssysteme zurückzuführen sind.

Zum anderen bieten soziale Medien gute Möglichkeiten, die breite Öffentlichkeit mit Ideen von Randgruppen in Berührung zu bringen. Beispielsweise zeigen Jacob Davey und Julia Ebner in einer Studie von 2019, wie Rechtsextreme gelernt haben, ihre Inhalte so zu verpacken, dass sie nicht direkt illegal sind und gelöscht werden. Stattdessen nutzen sie die Grauzone dessen aus, was sozial akzeptiert und legal ist.

Extremistische Akteure wollen mit ihren Inhalten ein möglichst großes Publikum erreichen. Dabei sind sie durchaus erfolgreich. Desinformation erreicht schneller mehr Menschen als die Wahrheit. Tweets mit moralisch aufgeladenen und emotionalen Worten führen dazu, dass sie häufiger geteilt werden und sich schneller verbreiten („viral gehen“).

[Lesen Sie mehr bei Tagesspiegel Plus: Auf „Feindeslisten“, ohne es zu wissen: Wie Rechtsextreme Menschen bedrohen]

Alles in allem sollte die Gefahr, dass soziale Medien den gesellschaftlichen Diskurs mit Hass und Hetze anheizen, nicht unterschätzt werden. Doch laut einer Studie von ARD/ZDF waren in Deutschland 2020 auf Twitter gerade mal 5 Prozent der Bevölkerung über 14 Jahre mindestens einmal die Woche aktiv. Bei Instagram sind es 20 Prozent und bei Facebook 26 Prozent. Die Nutzung sozialer Medien allein kann also nicht das Hauptproblem dafür sein, dass sich die aktuelle politische Debatte für einen Großteil der Bevölkerung toxisch anfühlt. Stattdessen spielt eine andere Dynamik eine viel wichtigere Rolle: die zwischen sozialen Medien, Politik und traditionellen Medien, sprich Fernseh-Talkshows, Radio und Zeitungen.

Es gibt kaum Politikerinnen und Politiker, Aktivisten oder Medienschaffende, die nicht auf sozialen Medien vertreten wären. Soziale Medien sind für Meinungsmacher ein überlebenswichtiges Werkzeug, das die eigene Popularität, Macht und den eigenen Einfluss voranbringt. Da besonders emotionale oder reißerische Artikel geteilt und geklickt werden, verleitet dies zu Überspitzung.

Diese immer enger werdende Bindung zwischen sozialen und traditionellen Medien bedeutet jedoch auch, dass vor allem Meinungsmacher die radikalisierende Wirkung der Online-Plattformen abbekommen. Politikerinnen und Wissenschaftler, die prominent an Corona-Entscheidungen beteiligt waren, erfahren ein hohes Maß an personalisierter Hetze in sozialen Netzwerken. Ebenso werden Journalistinnen und Journalisten immer wieder online, aber zunehmend auch offline, angegriffen, verleumdet und bedroht. Neben der etablierten politischen Elite treffen gezielte Hasskampagnen vor allem auch Aktivistinnen und Aktivisten mit LGBTQIA-Hintergrund, Frauen oder Menschen mit Migrationshintergrund, die politisch unterrepräsentiert sind – und so daran gehindert werden, Einfluss zu erlangen.

Das, was die deutsche Gesellschaft momentan erlebt, ist weniger eine gesamtgesellschaftliche Polarisierung, sondern eine immer personalisiertere Auseinandersetzung, bei der ein kleiner Teil der Bevölkerung (politische Eliten und Meinungsmacher) von einem ebenfalls nicht repräsentativen Teil der Bevölkerung (wütende Online-Trolle) mit Hass und Hetze überzogen werden – was sich wiederum auf die breite Debattenkultur auswirkt.

Mythos III: Wir brauchen mehr Kontakt mit der anderen Seite

Schon 2011 warnte Eli Pariser in seinem Buch vor sogenannten Filterblasen („filter bubbles“). Echokammern entstehen, wenn Algorithmen und Empfehlungssysteme von sozialen Plattformen uns nur Inhalte von Gleichgesinnten vorschlagen beziehungsweise Inhalte, welche die Nutzenden wahrscheinlich interessieren. Dadurch verfestigt sich das eigene Weltbild immer mehr.

Seitdem werden immer wieder Stimmen laut, wonach Echokammern aufgebrochen werden müssen. Doch einfach die eine Seite mit Inhalten der anderen Seite in Berührung zu bringen, führt nicht zwangsweise zum gewünschten Ergebnis. Außerdem sind die Inhalte, die in diesen Filterblasen geteilt werden, oft nicht sachlich komplett falsch, sondern nur ein sehr einseitiger Ausdruck der Realität, der dann mit übertriebenen, extremistischen Weltanschauungen kontextualisiert wird.

Zudem entsteht ein weiteres Dilemma. Selbst wenn sich angesehene Medien oder Influencer kritisch mit einer Information auseinandersetzen, vergrößert dies möglicherweise ungewollt die Reichweite der Desinformation und verleiht ehemaligen Rand­Ideologien neue Legitimität.

Das Hinterfragen der drei Mythen hat gezeigt: Das Gesamtbild in Deutschland ist komplexer als eine einfache Aufspaltung der Gesellschaft in zwei Lager. Die folgenden drei Vorschläge möchten polarisierende Entwicklungen effizienter angehen.

Vorschlag I: Amplifikation vermeiden

Erstens müssen individuelle Nutzerinnen und Nutzer sozialer Medien dafür sensibilisiert werden, wie ihr Online-Verhalten ungewollt ideologische Brandstifter stärken kann und wie schon einfache Verhaltensänderungen dagegenwirken. Zum Beispiel hilft es, den Screenshot eines Tweets zu posten und zu kommentieren, anstatt den Tweet mit einem Witz oder einer ebenso emotionalen Retourkutsche direkt zu retweeten. Dies unterbricht die Viralität von Postings und erlaubt trotzdem, die eigene Meinung kundzugeben. Zweitens sollte es mehr Ressourcen und Fortbildungen für Medienschaffende über Methoden geben, mit deren Hilfe Berichterstattung über Online-Phänomene möglich ist, ohne Schaden herbeizuführen.

Vorschlag II: Radikalisierenden Tendenzen durch soziale Medien stärker entgegentreten

Um zu verhindern, dass vor allem Jugendliche extremistischen Narrativen zum Opfer fallen, ist auch in diesem Bereich eine solide Ausbildung im Umgang mit neuen Medien unerlässlich. Gleichzeitig sollte man auch darüber nachdenken, nicht nur Jugendlichen, sondern auch Älteren mehr Fort- und Weiterbildung anzubieten, um mit Desinformation besser umzugehen und die Medienkompetenz generell zu steigern. Ebenso sollten nicht nur Individuen, sondern auch die Plattformen noch strenger zur Verantwortung gezogen werden, um demokratie­gefährdende Fehlinformation rigoros zu verhindern.

Vorschlag III: Die Unsichtbaren sichtbar machen

Die meiste Aufmerksamkeit erhalten momentan diejenigen, die am lautesten schreien. Stattdessen müssen wir Möglichkeiten schaffen, besonders denjenigen Gehör zu verschaffen, die am Anfang als die „Unsichtbaren“ beschrieben wurden. Politik, Medien sowie politische und soziale Stiftungen können hier also einen wichtigen Teil dazu beitragen, die „Unsichtbaren“ und ihre Sorgen, Nöte und Meinungen stärker in den gesellschaftlichen Diskurs einzubinden.

Alles in allem sollten wir uns nicht darauf ausruhen, dass Deutschland weniger polarisiert ist als viele andere Länder. Auch bei uns kann der Strudel aus Hass und Hetze, gekoppelt mit traditionellen Medien, das Klima so vergiften, dass kein liberal-demokratisches Handeln mehr möglich ist. Auch bei uns steigt Ungleichheit. Es gilt also, die liberale Demokratie jetzt zu schützen. Dazu müssen wir allerdings unser Schwarz-Weiß-Denken über Polarisierung aufbrechen, um sinnvolle und effiziente Wege zu finden, spalterische Tendenzen in unserer Gesellschaft zu überwinden.

Paula Köhler.
Paula Köhler.

© promo / SWP

Die Autorin Paula Köhler ist Forschungsassistentin in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Mit einer längeren Version dieses Textes, zuerst erschienen in „Internationale Politik“ und zu lesen unter diesem Link, gewann sie den Sylke-Tempel-Essaypreis 2021.

Paula Köhler

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