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"Für die Liebe auf die Straße": Mit diesem Motto wurde in Berlin 2017 für die Meinungs- und Pressefreiheit demonstriert.

© Maurizio Gambarini/dpa

Gefühlte Meinungsfreiheit: Was jetzt passieren muss, um die Polarisierung im Land zu überwinden

Können Menschen in Deutschland ihre Meinung frei äußern? Laut Allensbach sagen 44 Prozent nein. Das ist ein Höchststand und Alarmsignal. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

So ist es heute: In Debatten soll der Gegner nicht nur überzeugt, sondern niedergerungen werden. Es soll Sieger und Verlierer geben, Gnade wird keine gewährt. Die sozialen Netzwerke haben diese Härte verstärkt. Nicht Argumente entscheiden, sondern Klickraten.

Und das Publikum johlt dazu wie wenn das  Kasperle dem Krokodil die Holzlatte auf den Kopf haut. Das Phänomen ist nicht auf Deutschland beschränkt, am extremsten ist es wohl in den USA ausgeprägt. In der Ära von Donald Trump erklomm es einen Höhepunkt.

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Können Menschen in Deutschland ihre Meinung frei äußern? Laut Allensbach sagen 44 Prozent der Befragten nein. Das ist ein historischer Höchststand. Die Umfrage wird jährlich seit 1953 durchgeführt.

Die Anhänger von AfD, FDP und Linke empfinden den Meinungsklimadruck am stärksten, die von Grünen, Union und SPD am geringsten. Besonders heikel sind Themen wie Muslime und Islam, Vaterlandsliebe und Patriotismus, geschlechtergerechte Sprache und der Gebrauch politisch inkorrekter Begriffe wie „Zigeunerschnitzel“ oder „Mohrenkopf“.

Kulturkampf ist keine rechte Erfindung

Die Umfragedaten deuten auf ein alarmierend hohes Maß an gesellschaftlicher Polarisierung hin. Wer diesen Befund kleinredet, verstärkt ihn. Kulturkampf ist keine rechte Erfindung, wie einige Linke sagen, und das Streben nach Gerechtigkeit ist nicht bloß linker Machtwille, wie einige Konservative sagen.

Auseinandersetzungen über Familie, Geschlecht, Kindererziehung, Religion, Einwanderung und Sprache mögen angesichts etwa der Folgen des Klimawandels  banal wirken, sind aber für viele Menschen identitätsstiftend und deshalb von existenzieller Relevanz. Jeder Hochmut deren Sorgen gegenüber verbietet sich.

Was ist zu tun? Alle Seiten müssen Widerspruch besser aushalten, sich nicht verbittern lassen oder einigeln. Ja, die Gegenseite liegt auf der Lauer. Ja, es tut weh, angeklagt oder verspottet zu werden. Aber wer sich ängstigt, seine Meinung zu sagen, zeigt manchmal auch zu wenig Mut.

Absehbare Aggressivität meiden zu wollen, ist ein verständliches Motiv. Durch ein Vor-sich-hin-Grollen ändert sich allerdings gar nichts. Wer sich weder einschüchtern noch provozieren lässt, sondern sachlich und besonnen bleibt, kann zumindest mit Fairness punkten.

Bleibt der freie demokratische Diskurs auf der Stecke?

Konflikte, die nicht offen ausgetragen werden, können eine Gesellschaft zerreißen. Nicht der anklagende Fingerzeig auf eine angeblich die Mehrheit gängelnde Elite lässt das Meinungsklima toleranter werden.

Und wenn das Argument weniger wichtig ist als die Frage, wer es vorträgt, bleibt der freie demokratische Diskurs auf der Stecke. Es braucht Mut – und Demut, um die Polarisierung zu überwinden. Und es braucht die Solidarität mit denen, die ihre Angst vor Sanktionierung überwinden und sich mit ihrer Position ins Offene trauen.

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