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Wer nicht denkt wie ich, der spinnt eben! Die Diskursfronten verhärten zusehends. (Archivfoto von einer Querdenken-Demonstration in Canstatter Wasen in 2020).

© imago images/Ralph Peters

Von Klima- bis Coronakrise: Wenn das Moralisieren die Moral verdrängt

Die Gesellschaft gefährdet sich selbst, wenn sie das Streben nach Pluralismus aufgibt. Über die Dynamik aktueller und bösartiger Polarisierungen. Ein Gastbeitrag.

Wolfgang Merkel ist Professor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Senior Scholar am Democracy Institute der Central European University in Budapest

Am 6. Januar stürmte ein rechter Mob das Kapitol in Washington, das Herz der amerikanischen Demokratie. Fünf Todesopfer und eine verstörte Gesellschaft blieben zurück. Der Sturm hat emblematischen Charakter. Weit über das Jahr und Amerika hinaus. Schon im 19. Jahrhundert schrieben Alexis de Tocqueville und Karl Marx unabhängig voneinander: Die USA halten Europa, dem alten Kontinent, den Spiegel seiner Zukunft vor.

Haben beide Philosophen Recht, könnte die politische Polarisierung zur Signatur der 20er Jahre des 21. Jahrhundert werden. Und darüber hinaus. Was spricht dafür?

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Es sind vor allem gesellschaftliche Konflikte, die die Politik und ihre Auseinandersetzungen prägen. In den westeuropäischen Nachkriegsgesellschaften war es lange die sozioökonomische Konfliktlinie, deren Modernisierungseffekte die religiösen, regionalen und kulturellen Trennlinien abschwächten. Die prägenden politischen Auseinandersetzungen und Diskurse verliefen entlang der sozioökonomischen Konfliktlinie zwischen Kapital und Arbeit, Staat und Markt, links und rechts.

Es waren der Steuer- und Sozialstaat sowie seine Architekten, die programmatisch diffusen Volksparteien, die diesen Konflikt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entschärften. Den grundsätzlichen Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit vermochten und wollten sie nicht auflösen. Aber ihre Politik des institutionalisierten Kompromisses sicherte einen gewissen sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft. In Westeuropa stärker als in den USA oder Osteuropa.

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Nach dem Epochenbruch von 1989 veränderten sich die Konfliktstrukturen des Westens. Der Kalte Krieg war zu Ende, dem wirtschaftlichen und politischen Liberalismus wurde eine große Zukunft vorausgesagt. Im temporären Niemandsland der Konflikte bildete sich eine neue, kulturell akzentuierte Konfliktlinie heraus. Sie durchschneidet seitdem die fortdauernde horizontale sozioökonomische Trennlinie senkrecht.

Der politische Wettbewerb ist in Europa wie Nordamerika zweidimensional geworden. Auf dem einen Pol der kulturellen Konfliktlinie befinden sich die mit hohem Human- und Sozialkapital ausgestatteten akademisierten neuen Mittelschichten. Sie leben urban, sind ökonomisch privilegiert, folgen einem kosmopolitischen Weltbild.

Die Streitpunkte: Klima, Gender, Stadt/Land

Der Nationalstaat ist ihnen Relikt des 20. Jahrhunderts. Sie insistieren auf offenen Grenzen, bevorzugen eine liberale Migrationspolitik, betonen die Gleichberechtigung der Geschlechter und sexueller Präferenzen. Sie legen Wert auf gendergerechte Sprache und Klimapolitik. Ökonomisch zählen sie zu den Begünstigten. Am anderen Pol der Konfliktachse sammeln sich die Kommunitaristen. Sie verfügen über einen geringeren formalen Bildungsgrad, befürworten einen starken Nationalstaat von dem sie strikte Migrationskontrolle, sozialen Schutz und finanzielle Förderung erwarten.

Gendergerechte Sprache ist ihnen nicht wichtig, Ökonomie rangiert vor Ökologie. Sie neigen eher zu autoritären denn libertären Lebenseinstellungen. Sie zählen zu den weniger Begünstigten unserer Gesellschaft. Manche finden ihre politische Heimat bei den Rechtspopulisten, andere bei linken Traditionalisten.

Wechselseitige Verachtung wächst

Beide hier idealtypisch skizzierten Gruppen trennt ein tiefer kultureller Graben. Eine wechselseitige Sprachlosigkeit, Verachtung oder gar Feindschaft befestigt ihre Lager. Woher kommt das? Ein wichtiger Grund liegt in der zunehmenden Moralisierung der Politik. Moralisierung ist nicht Moral. Ohne Moral kann es keine gerechte und humane Politik geben.

Moralisierung dagegen ist eine partikuläre und abwertende Form der Moraläußerung. Sie ist eine selbstgerechte Stilisierung der eigenen moralischen Position, eine Spielart des Egozentrismus, eine moralische Ostentation und Identitätsversicherung, die auf den Ausdruck der eigenen moralischen Überlegenheit verweist. Ein solcher Moralisierungsüberschuss prägt das Lager der linksliberalen Kosmopoliten.

Nirgends zuhause, aber überall Geld verdienen: Kosmopoliten sind die eine der zwei um Diskurshoheit ringenden Gruppen.
Nirgends zuhause, aber überall Geld verdienen: Kosmopoliten sind die eine der zwei um Diskurshoheit ringenden Gruppen.

© imago images/Westend61

Die andere Seite laboriert an einem Überschuss von Nationalismus und Traditionalismus. Tradition und Nation versichern ihr eine gewisse Identität. Die semantischen und normativen Brücken zwischen den Lagern sind kaum mehr begehbar. Der neue binäre Code heißt: Wahrheit versus Lüge, Moral versus Unmoral, Wissenschaft versus Leugnung. Der Pluralismus der Werte und Weltsichten wird als Zumutung empfunden. Gegner werden zu politischen Feinden. Dissidenzen werden von den Diskursführern entmoralisiert.

Der Versuch beider Lager mit ihrer je partikulären Moral pluralistische und multimoralische, also moderne, Gesellschaften zu majorisieren, erscheint seltsam vormodern und führt zur Polarisierung. Als hätte der umstrittene Staatsrechtslehrer Carl Schmitt das Skript geschrieben.

Statt Pluralismus wächst die Polarisierung

Die verhärteten kulturellen Diskurse und der Verlust von Empathie und Kompromiss markieren den Übergang vom lebendigen Pluralismus zur verständnis- und kompromisslosen Polarisierung. In der neueren Polarisierungsforschung werden demokratisierende und demokratiegefährdende Polarisierung unterschieden. In den Klassengesellschaften Lateinamerikas beispielsweise wird die extreme ökonomische Ungleichheit nicht ohne Mobilisierung und Polarisierung zu überwinden sein.

Demokratie und Kompromisse zahlten dort noch stets auf die Konten der Herrschenden ein. Dies war in den demokratischen Gesellschaften Europas so nicht der Fall. Es waren die Wahlzettel, die den unteren Schichten eine gewisse Mitsprache öffneten. Der Demokratieforscher Adam Przeworski nannte sie zu Recht die „Paperstones“ der Arbeiterklasse im 20. Jahrhundert.

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Die drei vergangenen großen Krisen westlich-demokratischer Gesellschaften haben zwar erhebliche wirtschaftliche und soziale Konsequenzen, wurzeln aber nicht primär im Ökonomischen. Migrations-, Klima- und Coronakrise sind vielmehr vom Ineinandergreifen von Wissenschaft und Moral geprägt. Erstaunlicherweise rationalisierte die Wissenschaft dabei nicht die Moral. Es war umgekehrt: Die Moral moralisierte wissenschaftliche Positionen.

Damit wurde der Wissenschaft eine wesensfremde Immunisierung angedient. Positionen, die wissenschaftliche Erkenntnisse irrigerweise als absolut setzen und als moralischen Imperativ der Politik suggerieren wollen: „follow the science“ oder „science has told us“. Sie verkennen damit Karl Poppers Prinzip von „trial and error“ ebenso wie das kontingente Wesen demokratischer Entscheidungen.

Was ist zu tun, um die beginnende Dynamik bösartiger Polarisierung zu brechen? Wir müssen die Moralisierung von Wissenschaft und Politik beenden und durch eine Moral der kritischen Selbstreflexion und Verständigung ersetzen. Wir sollten erkennen, dass Wissenschaft nicht Politik ersetzen kann.

Abweichungen von wissenschaftsbasierter Evidenz müssen nicht der kognitiven Irrationalität anheimfallen, sondern mögen dem mühsamen Kompromissgeschäft politischer Entscheidungen verpflichtet sein. Diese haben vielfältige Ziele und Interessen zu berücksichtigen. Demokratie braucht Zeit, Toleranz und Dissidenz. Wenn wir das begreifen, werden es die Polarisierung und ihre Freunde schwer haben.

Wolfgang Merkel

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