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Gerichtsverhandlungen in Präsenz sind derzeit noch die Regel.

© picture alliance/dpa/Robert B. Fishman

„Der Rechtsfrieden wird profitieren“: Sind Videoverhandlungen im Zivilgericht bald die Regel?

Ein Gesetzentwurf des Bundesjustizministers setzt auf mehr Videoverhandlungen im Gericht. Grünen-Politiker Till Steffen reicht das nicht aus.

Was die Digitalisierung angeht, hinkt Deutschland ziemlich hinterher. Im europäischen Vergleich der digitalen Wirtschaft und Gesellschaft im Jahr 2022 schaffte es Deutschland nur auf den 13. Platz. Auf den Spitzenrängen stehen Finnland, Dänemark und die Niederlande.

Justizminister Marco Buschmann (FDP) will an dieser Reihenfolge etwas ändern. Zum Beispiel, indem Videotechnik bei Gerichtsverhandlungen eingesetzt werden darf.

Buschmann hat deshalb einen Gesetzentwurf zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten vorgelegt, der im Mai im Bundeskabinett beschlossen worden ist. Am 18. Oktober steht nun die Anhörung im Bundestag dazu an.

Dem Parlamentarischen Geschäftsführer der Grünen-Bundestagsfraktion Till Steffen geht der Vorstoß, der künftig Richter:innen die Möglichkeit einer Videoverhandlung anheimstellen soll, nicht weit genug. Er fordert in einem Regelungsentwurf, der den Koalitionspartnern vorliegt, das Gegenteil.

Die Videoverhandlung spart Zeit und Ressourcen.

Till Steffen, Parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen im Bundestag.

Die Vorsitzenden sollten nur in Ausnahmefällen auf eine Präsenzverhandlung zurückgreifen dürfen, die Videoverhandlung soll der Regelfall werden. Aufgrund der anstehenden Pensionierungswelle in der Justiz werde der Personalmangel noch größer werden, sagte Steffen im Gespräch mit dem Tagesspiegel.

Außerdem stiegen die Erwartungen der Menschen an die Justiz: „Die Videoverhandlung spart Zeit und Ressourcen. Sie stärkt den Zugang zum Recht in der Fläche und erlaubt Zugang zu guten Anwält:innen und spezialisierten Gerichten.“ Gleichzeitig würden sinnlose Termine vermieden.

Gerichtsverhandlungen per Video sind in Deutschland bislang die Ausnahme.

© Gerichtsverhandlungen per Video sind in Deutschland bislang die Ausnahme.

Till Steffen ist sich sicher: „Im Ergebnis geht damit nichts verloren, sondern wir sorgen dafür, das Verfahren schneller werden und die Qualität sogar steigt. Der Rechtsfrieden wird profitieren.“

Praktiker sehen Grünen-Vorstoß kritisch

Praktiker:innen sind sich da nicht so sicher. Mari Weiss, Sprecherin des Bundesvorstandes der Neuen Richtervereinigung, findet es zu pauschal, Präsenzverhandlungen als „altmodisch“ und Videoverhandlungen als „modern“ zu bezeichnen.

Eine so weitgehende Regelung wie die Umkehr des Regel-Ausnahme-Verhältnisses erkenne den besonderen Wert, den die direkte Kommunikation zwischen den Beteiligten habe, nicht ausreichend an, sagte Weiss dem Tagesspiegel.

„Nach unserer Erfahrung gibt es viele Fälle, in denen im Gerichtssaal, oft zum ersten Mal, direkt miteinander gesprochen wird und nicht selten Lösungen entstehen, die einen echten Mehrwert für die Beteiligten bringen“, sagt Weiss.

Oft seien es die normalen Bürger:innen, die mit Videokonferenzen vielleicht sonst nicht so viel zu tun haben, die sich direkt den Richter:innen gegenüber äußern wollen. „Sie haben bei einer Videoverhandlung oft eher nicht den Eindruck, angemessen rechtliches Gehör erhalten zu haben.“

Die Ausstattung lässt es häufig gar nicht zu, dass mehrere Richter:innen an einem Gericht parallel oder auch nur am selben Tag Videoverhandlungen führen.

Mari Weiss, Sprecherin des Bundesvorstandes der Neuen Richtervereinigung.

Weiss bezweifelte außerdem die Umsetzbarkeit – aus Mangel an technischen Möglichkeiten. In vielen Gerichten gäbe es nur einen Saal oder nur ein Technikset für Videokonferenzen. „Die Ausstattung lässt es häufig gar nicht zu, dass mehrere Richter:innen an einem Gericht parallel oder auch nur am selben Tag Videoverhandlungen führen.“

Susanne Hennig-Wellsow, Obfrau des Rechtsausschusses der Linksfraktion sieht in dem Gesetzesentwurf noch erhebliche Unschärfen.

„Erst wenn diese ausgeräumt sind, wird sich zeigen, ob und in welchen Rechtsbereichen die Videoverhandlung zur Regel werden kann.“ Für Verhandlungen vor Sozial- und Arbeitsgerichten erhebt sie allerdings schon jetzt Bedenken.

Gerade in sehr sensiblen Lebensbereichen sollte der Zugang zu gerichtlichen Verhandlungen sehr einfach gehalten werden.

Susanne Hennig-Wellsow, Obfrau des Rechtsausschusses der Linksfraktion.

„Vor Sozialgerichten geht es häufig um die Bewilligung existenzsichernder Leistungen und nicht selten sind die Menschen, um deren Leistungen es geht, gerichtsunerfahren“, sagte sie dem Tagesspiegel.

„Beides zusammen stellt schon für sich genommen eine Hürde für die Betroffenen dar für den Gang vor ein Gericht. Dem sollte der Gesetzgeber mit der Verhandlung per Video nicht eine weitere Hürde hinzufügen.“

Gerade in sehr sensiblen Lebensbereichen sollte der Zugang zu gerichtlichen Verhandlungen sehr einfach gehalten werden, auch indem mündliche Verhandlungen in Präsenz weiterhin das übliche Verfahren darstellen.“

Katrin Helling-Plahr, rechtspolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, ist davon überzeugt, dass die Videoverhandlung in Zukunft zur Normalität werden wird. „Allerdings nicht, weil der Gesetzgeber dies erzwingt, sondern weil alle Beteiligten vom Nutzen überzeugt sind.“

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