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Angehörige der armenischen Diaspora vor der türkischen Botschaft in Washington.

© Joshua Roberts/REUTERS

„Vernichtungskampagne“ gegen Armenier: Die Anerkennung des Völkermords belastet das Verhältnis zwischen Washington und Ankara

Die USA erkennen Völkermord an Armeniern an – und stufen damit die Beziehungen zur Türkei herab. Erdogan sucht nach einer passenden Antwort auf die Demütigung.

Zwischen der Türkei und den USA werde ab sofort nichts mehr so sein wie vorher, schimpfte der türkische Nationalistenchef Devlet Bahceli: „Wir stehen an einer Wegscheide.“ Dass US-Präsident Joe Biden die osmanischen Massaker an den Armeniern offiziell als Völkermord eingestuft hat, will Bahceli nicht hinnehmen. Er werde jede Vergeltungsmaßnahme mittragen, erklärte der Rechtsnationalist und Koalitionspartner von Präsident Recep Tayyip Erdogan im Parlament.

Nicht nur Bahceli ist empört. Fast alle Parteien und führenden Politiker der Türkei weisen Bidens Erklärung zurück; die Regierung bestellte den US-Botschafter ins türkische Außenamt. Nur einer hielt sich am Wochenende auffällig zurück: Von Erdogan kam kein Kommentar. Der Präsident brauchte offenbar Zeit, um eine Antwort zu finden, die weder Bahceli enttäuscht noch die türkische Wirtschaft tiefer in die Krise stürzt.

Viele europäische Länder und Erdogans Partner Russland haben den Tod von bis zu 1,5 Millionen Armeniern des Osmanischen Reiches als Völkermord gebrandmarkt, doch die USA hatten dies bisher vermieden, um den Nato-Verbündeten nicht zu verärgern.

Biden spricht von „Vernichtungskampagne“

Biden setzte sich am Gedenktag am 24. April darüber hinweg. In seiner schriftlichen Stellungnahme tauchte das Wort Völkermord gleich zweimal auf. Zudem sprach Biden von einer „Vernichtungskampagne“ gegen die Armenier.

Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu warf Biden Populismus vor, Erdogans Sprecher Ibrahim Kalin nannte das Handeln des US-Präsidenten „prinzipienlos“. Das Außenministerium sprach von einer „tiefen Wunde“ für die Beziehungen. Auch Oppositionspolitiker wie der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu, ein potenzieller Präsidentschaftskandidat, verurteilten Bidens Entscheidung. Nur die pro-kurdische Partei HDP forderte, sie solle sich ihrer Vergangenheit stellen.

Türkei sieht sich gedemütigt

Bidens Erklärung ist nicht nur eine Demütigung der Türkei durch die westliche Führungsmacht, sondern auch eine persönliche Niederlage für Erdogan. Der amerikanische Präsident hält seinen türkischen Kollegen seit seinem Amtsantritt auf Distanz und rief ihn am Tag vor seiner Erklärung zum ersten Mal an – um ihm mitzuteilen, was er zu der Armenier-Frage sagen werde. Im türkisch-amerikanischen Verhältnis häufen sich die Probleme, sie reichen von der Anschaffung eines russischen Flugabwehrsystems durch Ankara bis zu Interessengegensätzen in Syrien.

Biden will Erdogan nicht entgegenkommen. Das Weiße Haus erklärte, der Präsident wolle in den Beziehungen zur Türkei „mit Meinungsverschiedenheiten effizient umgehen“.

Erdogan, der sich sonst gerne mit ausländischen Politikern anlegt, schwieg dazu. Stattdessen lobte er die türkische Armee, die fast zeitgleich mit Bidens Erklärung eine neue Offensive gegen die kurdische PKK im Norden Iraks startete. Zudem sprach er mit dem aserbaidschanischen Staatschef Ilham Alijew, dem er im vergangenen Jahr im Krieg gegen Armenien geholfen hatte. Erst nach einer Kabinettsitzung an diesem Montag werde sich der Präsident öffentlich äußern, berichteten türkische Medien am Sonntag.

Erdogan muss abwägen

Bei einer Reaktion auf Bidens Erklärung muss Erdogan mehrere Dinge abwägen. Nicht nur Koalitionspartner Bahceli erwartet eine entschiedene Antwort: Die meisten Türken weisen den Völkermords-Vorwurf zurück. Vier von fünf Türken betrachten die USA zudem als größte Bedrohung für ihr Land, wie eine Umfrage ergab. Einige Nationalisten fordern, die Türkei solle die wichtige Luftwaffenbasis Incirlik nahe der syrischen Grenze für die amerikanische Luftwaffe sperren.

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Doch Erdogan muss auch die Wirtschaft im Blick haben, die unter starkem Wertverlust der Lira, hoher Inflation und steigender Arbeitslosigkeit leidet. Schon vor Bidens Erklärung war der Kurs der Lira gegen Euro und Dollar gefallen.

Wenn Erdogan nun Öl ins Feuer gießt, könnte er der eigenen Wirtschaft noch mehr schaden. Möglicherweise wird der Präsident deshalb versuchen, die Krise mit den USA herunterzuspielen. Die Reaktionen regierungsnaher Medien in der Türkei fielen am Sonntag jedenfalls relativ zahm aus. Unabhängig von Erdogans Reaktion wird sich die Türkei auf eine neue Realität in ihren Beziehungen zu den USA einstellen müssen: Biden hat mit seinem hoch symbolischen Schritt die Beziehungen herabgestuft.

Für die Türkei gab es keinen Völkermord

Zudem hat der US-Präsident die Türkei erneut mit der Armenier-Frage konfrontiert. Die offizielle Lesart der Türkei lautet, dass zwar viele Armenier in den Kriegswirren des Jahres 1915 umkamen, dass es aber keine Vernichtungsabsicht und deshalb auch keinen Völkermord gab. Eine neue Generation türkischer Historiker hat im letzten Jahrzehnt allerdings umfangreiche Forschungsarbeiten vorgelegt, die der osmanischen Reichsregierung die Absicht zum Genozid nachweisen.

Sie kommen zu dem Schluss, dass wirtschaftliche Gründe hinter den Massakern steckten: „Die Enteignung der Armenier ist als wesentliche Motivation zu sehen, die die Täter zum Genozid veranlasste“, argumentiert der Historiker Mehmet Polatel.

Detailliert schildert Polatel in seinen Büchern und Artikeln, wie der Besitz der Armenier planmäßig enteignet und verteilt wurde. Die staatliche Planung zur Aufteilung, Zuweisung und Verwendung des armenischen Besitzes zeige zweifelsfrei, dass die Armenier in den Tod geschickt wurden: „Schon bevor sie tot waren, wurde ihr Besitz verwaltet, als ob sie schon gestorben wären.“

Heute stehen türkische Flughäfen und Staatsgebäude auf vormals armenischem Grundbesitz in Anatolien; ganze Wirtschaftsimperien in der Türkei sind auf Startkapital aufgebaut, das aus enteignetem Besitz der vertriebenen und ermordeten Armenier stammt. Die Anerkennung einer historischen Schuld durch die Türkei würde die Frage nach Entschädigungen für die Nachkommen aufwerfen und nach der moralischen Legitimität des türkischen Nationalstaates – beides Fragen, denen sich die türkische Gesellschaft nicht stellen will.

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