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Wer hilft? Jede Frau, die zum Opfer wird, ist eine zu viel.

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Exklusiv

Rechte von Gewaltopfern: Für besseren Schutz braucht es Hunderte Millionen Euro

Eine Studie im Auftrag des Familienministeriums zeigt, wie viel Geld nötig ist, um Opfer häuslicher Gewalt besser zu schützen. Das stellt Ministerin Paus in Zeiten leerer Kassen vor Probleme.

Die Pläne von Bundesfrauenministerin Lisa Paus (Grüne), um Opfer häuslicher Gewalt besser zu schützen, konkretisieren sich. Allerdings zeichnet sich ab, dass viel Geld nötig sein wird, um echte Verbesserungen zu erreichen: Es geht um einen Mehrbedarf im Bereich von Hunderten Millionen Euro pro Jahr.

Das geht aus internen Unterlagen hervor, die dem Tagesspiegel vorliegen. Angesichts der derzeit dramatischen Haushaltssituation ist absehbar, dass dieses Geld nicht ohne Weiteres zu erstreiten sein wird. Öffentlich vorstellen will Paus die Pläne erst Anfang 2024.

Im Oktober wurden intern erste Ergebnisse einer Studie über Kosten vorgelegt, die die Unternehmensberatung Kienbaum in enger Absprache mit dem Bundesfamilienministerium erstellt hat. Demnach gibt es derzeit bundesweit knapp 7800 Plätze für Frauen und Kinder in Frauenhäusern.

Für das gesamte Hilfesystem, zu dem auch Beratungsstellen und weitere Einrichtungen gehören, werden der Studie zufolge pro Jahr rund 268 Millionen Euro ausgegeben. Bei Weitem der größte Anteil sind Personalkosten. Nicht die gesamte Summe wird von der öffentlichen Hand aufgebracht, ein gewisser Anteil entfällt etwa auf Spenden und ehrenamtliche Arbeit.

In der Studie werden zwei Szenarien skizziert, die nicht als konkrete Empfehlungen zu verstehen sind, aber dennoch zeigen, um welche Größenordnungen es geht. Szenario zwei basiert auf dem konkreten Mehrbedarf, den die Einrichtungen gemeldet haben. Es hätte zur Folge, dass 4.759 zusätzliche Plätze in Frauenhäusern sowie 5558 Plätze für Kinder geschaffen werden müssten. Dazu käme ein Plus bei den Beratungsstellen.

Hierbei ergäbe sich, wieder für das gesamte Hilfssystem berechnet, ein finanzieller Bedarf in Höhe von beinahe 657 Millionen Euro pro Jahr. Das wären knapp 389 Millionen Euro mehr, als derzeit ausgegeben werden.

Allerdings: Der Verein Frauenhauskoordinierung fordert sogar 14.000 mehr Plätze. In Szenario eins der Studie würden alle Empfehlungen und Forderungen, die sich sowohl aus der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung häuslicher Gewalt als auch von Seiten der Verbände ergeben, umgesetzt.

Nach diesem Szenario müssten insgesamt sogar knapp 13.400 Plätze für Frauen und Kinder in Schutzeinrichtungen neu geschaffen werden, ein Ausbau der Beratungsstellen käme hinzu. So ergäbe sich ein jährlicher Finanzbedarf für das gesamte Hilfesystem in Höhe von knapp 1,65 Milliarden Euro – knapp 1,38 Milliarden Euro mehr als derzeit investiert werden.

Das ist eine Summe, die enorm erscheint angesichts der akuten Haushaltsnöte des Staates. Der Bund müsste dieses Geld nicht alleine aufbringen. In den derzeit laufenden Verhandlungen geht es darum, welche Summen Bund und Länder tatsächlich investieren wollen, wer davon welchen Teil trägt – und ob man sich überhaupt einigen kann. In Verhandlungskreisen gilt Szenario zwei, die sparsamere Variante, als realistischer Ausgangspunkt für eine Lösung.

In den Szenarien wird auch geschätzt, wie viel mehr Geld es bräuchte, um männliche Gewaltopfer besser zu schützen. Die Mehrkosten sind aber mit knapp 9 oder 12 Millionen Euro im Vergleich sehr überschaubar.

Das Grundproblem: In Deutschland gibt es Versorgungslücken für Frauen (und in viel selteneren Fällen auch Männer), die vor häuslicher Gewalt fliehen wollen. Der Bestand an Plätzen in Frauenhäusern ist regional stark unterschiedlich. Insgesamt gibt es deutlich weniger Plätze als es nach den Vorgaben der Istanbul-Konvention bräuchte.

Die Ampel hat sich vorgenommen, einen bundesweit einheitlichen Rechtsrahmen für Frauenhäuser zu schaffen und die Finanzierung des Hilfesystems auf eine solide Grundlage zu stellen. Seit Langem verhandeln Bund, Länder und Kommunen.

Individueller Rechtsanspruch ab 2030

Welche Summe ist realistisch in Zeiten, in denen die Ampelkoalition vor einer haushaltspolitischen Notlage bisher nicht gekannten Ausmaßes steht? Diese Frage wird Ministerin Paus in den kommenden Monaten zu beantworten haben.

Allerdings: Bei den Kosten der beiden Szenarien handelt es sich um den laufenden Betrieb, insbesondere um Personal. Investitionskosten, um neue Plätze zu schaffen, kämen nach Einschätzung aus Verhandlerkreisen noch hinzu. Es gibt ein entsprechendes Förderprogramm des Bundes.

Momentan können dort aber keine neuen Anträge gestellt werden, da alle bis Ende 2024 zur Verfügung stehenden Mittel bereits verplant sind. Und selbst, ob das für 2024 eingeplante Fördergeld tatsächlich fließen kann, ist angesichts der jüngsten Haushaltskrise nicht sicher.

Vor wenigen Tagen hat Paus’ Ministerium dem Runden Tisch der Verhandelnden aus Bund, Ländern und Kommunen Eckpunkte für das geplante Gesetz vorgestellt. Auch diese internen Unterlagen liegen dem Tagesspiegel vor.

Paus’ Konzept beruht auf vier Säulen:

  1. Ausreichende und bedarfsgerechte Schutz-, Beratungs- und Unterstützungsangebote
  2. Beratung und Unterstützung auch für das soziale Umfeld von Gewaltbetroffenen
  3. Präventionsmaßnahmen einschließlich Täterarbeit
  4. Bessere Vernetzung aller Akteure, die Opfern helfen können, also zum Beispiel auch Polizei, Justiz und Bildungseinrichtungen

Die Ministerin plant einen individuellen Rechtsanspruch für betroffene Opfer inklusive Kinder auf Schutz und Beratung. Dieser soll zum 1.1.2030 in Kraft treten. Die Länder wären nach Paus’ Konzept verpflichtet, die Erfüllung dieses Rechtsanspruchs zu gewährleisten. Damit wären sie gegenüber den Kommunen, die die Strukturen vor Ort schaffen müssten, finanziell in der Verantwortung.

Es ist umstritten, ob der Bund tätig werden sollte

Die Frauenhausverbände kritisieren seit Jahrzehnten, wie ungleich Finanzierung und Förderung von Land zu Land und Kommune zu Kommune geregelt sind. Für Betroffene kann das furchtbare Folgen haben. Ministerin Paus argumentiert daher im Einklang mit dem Koalitionsvertrag der Ampel, sie habe für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse zu sorgen. Der Bund müsse tätig werden.

Doch ob er das wirklich kann und sollte, ist politisch umstritten. Per se zuständig sind derzeit die Länder. Es wäre ein Novum, wenn Ministerin Paus es schafft, dass der Bund tatsächlich in die Finanzierung des Betriebs einsteigt.

Die Idee, einen Rechtsanspruch zu schaffen, macht vor allem den Kommunen Sorgen: Sie befürchten, dass sie einerseits von Bund und Ländern zu wenig Geld bekommen, um den Rechtsanspruch einzulösen, aber andererseits von Betroffenen verklagt werden könnten, wenn es in der Praxis eben doch an Kapazitäten fehlt. Als „großen Schritt nach vorn“ sieht hingegen Ministerin Paus die geplante Einführung des Rechtsanspruchs, wie sie am Donnerstag in Berlin sagte.

Die Frage der Finanzierung ist in den derzeit vorliegenden Eckpunkten nur ungenau geregelt. Der Bund solle den Ländern einen höheren Anteil des Umsatzsteueraufkommens als bisher zugestehen, damit diese die neuen Aufgaben finanzieren können, heißt es. Spätestens an dieser Stelle wird Finanzminister Christian Lindner (FDP) ins Spiel kommen.

Paus wird sich mit Lindner einigen müssen

Mit ihm hat sich Familienministerin Paus gerade erst hingebungsvoll und unter den Augen der Öffentlichkeit über das Projekt Kindergrundsicherung gestritten. Als geschickte Strategin und erfolgreiche Verhandlerin ist die Familienministerin dabei nicht aufgefallen. Beim Thema Gewaltschutz wäre es wieder an Paus, zusätzliches Geld zu besorgen und darüber Einvernehmen mit Kabinettskollege Lindner herzustellen.

Die Eckpunkte zeigen auch, was Paus inhaltlich vorschwebt. Um Schutz und Beratung in Anspruch nehmen zu können, soll es genügen, die eigenen Betroffenheit gegenüber den Hilfestellen „niedrigschwellig darzustellen“, wie es in dem Papier des Ministeriums heißt. „Eine Überprüfung in Form von Glaubhaftmachung oder Beweislegung soll nicht stattfinden.“ Die Schutzleistungen sollen kostenfrei sein, was die Sicherung des Lebensunterhaltes aber nicht mit einschließen würde.

Aus weiteren Unterlagen, die dem Runden Tisch der Verhandelnden im Sommer vorgestellt wurden, geht hervor, wie das Schutzsystem derzeit aufgestellt ist. „Alle Bundesländer sind vom Richtwert der Familienplätze in Schutzeinrichtungen recht weit entfernt“, heißt es darin. Auch an Plätzen für Frauen fehle es, die Differenz sei aber „nicht ganz so ausgeprägt“.

In der Aufzählung der Gründe, warum Schutzsuchende von Einrichtungen abgelehnt werden mussten, steht das Fehlen von Kapazitäten ganz vorn. Laut Istanbul-Konvention bräuchte es einen Schutzplatz für Frauen je 10.000 Einwohner. Ermittelt wurden aber nur rechnerisch 0,43 vorhandene Plätze. 72 Prozent der Schutzeinrichtungen berichten von einem mittleren oder hohen Bedarf an mehr Raum. Die Beratungsstellen geben im Mittel an, dass sie circa 70 Prozent der Frauen bedarfsgerecht einen Termin anbieten können.

Geprügelt und auch psychische Gewalt ausgeübt wird in allen Milieus.

Lisa Paus (Grüne), Bundesfrauenministerin

„Gewalt gegen Frauen ist leider nicht nur alltäglich, sie kommt auch in allen gesellschaftlichen Schichten vor“. Das sagte Ministerin Paus am Donnerstag in Berlin bei einem Pressetermin zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, der jedes Jahr am 25. November begangen wird. „Geprügelt und auch psychische Gewalt ausgeübt wird in allen Milieus. Weil Gewalt gegen Frauen ein gesellschaftliches Tabu ist, brauchen Betroffene viel Mut, um darüber zu sprechen.“

Paus wies auf die traurige Notwendigkeit für mehr Schutz hin: „An jedem Tag versuchen in Deutschland Partner oder Ex-Partner, eine Frau zu töten. An jedem dritten Tag sind sie leider damit auch erfolgreich.“ Sie wolle, dass alle Frauen die Hilfe erhalten, die sie brauchen, „und zwar unabhängig davon, wo sie wohnen, wie hoch ihr Einkommen ist, ob sie Beeinträchtigungen haben, auch unabhängig davon, welchen Aufenthaltsstatus sie haben.“ Das geplante Gesetz und die vorgesehene Einführung des Rechtsanspruchs nannte Paus einen „Paradigmenwechsel“.

Wir hören immer nur Ankündigungen, es müssen endlich Taten folgen.

Silvia Breher, frauenpolitische Sprecherin der Unionsfraktion

Druck kommt von der Opposition. „Es reichen keine warmen Worte und kostenlosen Mitgefühlsbekundungen, sondern es muss Geld in die Hand genommen werden, um selbstverständliche Forderungen adäquat zu untersetzen“, sagte am Freitag Janine Wissler, Bundestagsabgeordnete für die Linkspartei.

Und auch die Unionsfraktion im Bundestag fordert Ergebnisse. „Jeden Tag werden Tausende Frauen weltweit Opfer verschiedenster Formen von Gewalt. Allein in Deutschland ist die Zahl der Opfer häuslicher Gewalt im vergangenen Jahr um 8,5 Prozent gestiegen. Wir sind als Gesellschaft gemeinsam in der Verantwortung, daran etwas zu ändern“, sagte am Freitag Silvia Breher, frauenpolitische Sprecherin der Fraktion. „Die Bundesregierung tut aktuell zu wenig, um Frauen in Deutschland besser vor Gewalt zu schützen. Wir hören immer nur Ankündigungen, es müssen endlich Taten folgen.“

Auch Paus würde vermutlich lieber heute als morgen Fakten schaffen. Nun muss sie dafür nur noch die notwendigen Millionen organisieren.

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