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Protest in Frankfurt gegen die türkische Angriffe. Foto: Hannes P. Albert/dpa

© dpa / Hannes P Albert

Update

Luftangriffe auf Kurdistan: Türkei und Iran bombardieren Autonomieregionen in Syrien und Irak

Für Erdogan war der Anschlag in Istanbul offenbar Anlass, die Angriffe auf kurdische Orte in den Nachbarländern zu intensivieren. Am Montag griff auch das iranische Regime an.

| Update:

Die türkische Armee hat am Sonntag die kurdischen Autonomieregionen in Syrien und Irak bombardiert. Eine Woche nach dem Anschlag in Istanbul teilte das türkische Verteidigungsministerium mit, es sei „Abrechnungszeit“ gekommen.

Hintergrund ist die Behauptung, die tödliche Explosion in Istanbul hätten kurdische Kräfte angeordnet. Internationale Beobachter unterstützen diese These nicht, die beschuldigten Organisationen PKK und YPG distanzierten sich von dem Anschlag in einer Einkaufsstraße.

Auch Irans Revolutionsgarden haben am frühen Montag erneut Ziele in der Kurdenregion im benachbarten Nordirak angegriffen. Mit Raketen und Drohnen seien Stützpunkte kurdischer Exilgruppen angegriffen worden, berichtete Irans regierungsnahe Nachrichtenagentur Tasnim auf Twitter.

Bereits in den vergangenen Monaten hatte das Mullah-Regime immer wieder Stützpunkte kurdischer Parteien und ihrer als Peschmerga bezeichneten Milizen in Nordirak bombardieren lassen. Teherans Regierung wirft den kurdisch-iranischen Exilanten dort vor, die landesweiten Proteste gegen Irans islamische Herrschaftssystem zu unterstützen. Der aktuelle Aufstand im Iran begann aus der kurdischen Minderheit heraus.

31 Menschen durch türkische Luftangriffe getötet

In 89 Zielen in Nordsyrien und im Nordirak seien „Terroristen neutralisiert“ worden, teilte die Regierung in Ankara am Sonntag mit. Im Fokus sollen sich die YPG, die De-facto-Streitkräfte in Nordsyriens kurdisch geprägter Autonomieregion, sowie die PKK, die einst in der Türkei gegründete militante Arbeiterpartei Kurdistans, befunden haben. Die PKK-Führung hält sich im Nordirak auf.

Bei den Luftangriffen seien 31 Menschen getötet und Dutzende verletzt worden, meldete die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Vertreter der Autonomieregierung in Nordsyrien meldeten zunächst, es seien zehn Zivilisten und drei Kämpfer der überkonfessionellen SDF-Allianz, der die YPG angehört, getötet worden. Demnach wurde in Kobane auch eine Klinik zerstört.

Die nordsyrische Stadt an der türkischen Südgrenze war 2014 international bekannt geworden, als die dort verbliebenen Kurden vom „Islamischen Staat“ (IS) belagert wurden, den sie schließlich mithilfe der USA vertreiben konnten.

Auch 15 Soldaten des syrischen Regimes sollen getötet worden sein

Die neben der kurdischen YPG aus christlich-assyrischen und muslimisch-arabischen Verbänden bestehende SDF-Allianz kündigte nach den türkischen Bombardements an: „Diese Angriffe werden nicht unbeantwortet bleiben.“

In der Autonomieregion im Norden des zerfallenden Syriens regiert eine Koalition unter Führung der säkularen PYD. Die Partei steht ideengeschichtlich der in Deutschland verbotenen PKK nah, wenngleich die PYD im Westen weitgehend als legitime Vertretung der syrischen Kurden anerkannt ist. Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan lehnt die Autonomieregion ab.

Durch Ankaras Angriffe am Sonntag sollen auch 15 Soldaten der syrischen Zentralregierung getötet worden sein. Ob dies gezielt geschah, bleibt abzuwarten. Das Damaszener Regime des Herrschers Baschar al Assad lehnt die kurdische Autonomie ebenfalls ab, allerdings auch die von Erdogan unterstützten Islamisten im Nordwesten Syriens. Zuletzt signalisierte Erdogan, sich Assad – den er einst zuvorderst bekämpfte – annähern zu können.

Syrien, Taql Baql, nach einem türkischen Luftangriff.
Syrien, Taql Baql, nach einem türkischen Luftangriff.

© dpa / Baderkhan Ahmad

Das Verteidigungsministerium in Ankara beruft sich allgemein auf das Recht zur Selbstverteidigung, es gehe darum, „Terroranschläge“ gegen das türkische Volk zu vermeiden. Verteidigungsminister Hulusi Akar steht der rechtsextremen MHP nah, die Erdogans islamischer AKP als Bündnispartner dient.

Türkische Besatzungszone könnte 600 mal 30 Kilometer groß werden

In der Türkei verurteilte zunächst nur die prokurdische HDP die Angriffe scharf. Ankaras Armee unterhält seit Jahren große Stützpunkte in Syrien und Irak. Immer wieder sprechen Beobachter von einer „Invasion“, allein auf syrisches Gebiet gab es seit 2018 vier große Angriffswellen, an denen auch Bodentruppen beteiligt waren.

Die Türkei will in Syrien einen 600 Kilometer breiten und 30 Kilometer tiefen Korridor errichten. Das hatte Erdogan im Mai dieses Jahres angekündigt. Die avisierte Besatzungszone würde die Kurden im Süden der Türkei von denen im Norden des Nachbarlandes trennen und Platz für vor Syriens Krieg geflohene Araber schaffen, die Erdogan dort ansiedeln möchte.

Zehntausende IS-Anhänger leben immer noch in Gefangenencamps in der Autonomieregion. Viele Herkunftsländer der Dschihadisten weigerten sich, ihre Bürger nach der Niederlage des IS aufzunehmen. Die kurdischen Kräfte fürchten, der türkische Angriff ermöglicht erneut Massenausbrüche.

Aktuell blockiert Ankara den Nato-Beitritt von Schweden und Finnland. Die nordischen Länder kooperierten bis vor Kurzem mit der kurdischen Autonomieverwaltung in Nordsyrien, bislang wurden auch PKK-Sympathisanten in Schweden weniger hart verfolgt als etwa in Deutschland üblich.

Die PKK reichte im Mai 2022 über Berliner Anwälte einen Antrag im Bundesinnenministerium ein, um das 1993 verhangene Verbot aufheben zu lassen. Noch am Sonntag versammlten sich Demonstranten unter anderem in Frankfurt (Main), Berlin, Leipzig, Dresden und Hamburg, um gegen die türkische Militäroffensive zu protestieren.

Seit Wochen geplant ist, dass Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) am Montag nach Ankara fliegt, um ihren türkischen Amtskollegen Süleyman Soylu zu besuchen. Soylu gilt als sicherheitspolitischer Hardliner in der regierenden AKP. Auch in einigen westeuropäischen Medien wurde er als Nachfolger von Präsident Erdogan gehandelt.

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