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Leichensäcke mit Zivilist:innen, die in Butscha getötet worden sind.

© picture alliance/dpa/AP

Gräueltaten in der Ukraine: Kann Putin des Völkermordes angeklagt werden?

Den russischen Truppen werden Kriegsverbrechen vorgeworfen. Deutsche Experten sind sich aber uneins, ob es sich in der Ukraine um einen Genozid handelt.

Die Gräueltaten in der Ukraine nehmen kein Ende. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) warnt sogar vor einer weiteren Eskalation. Doch welche Straftaten kann man Russland wegen seines Angriffskriegs im Nachbarland vorwerfen?

Wird in der Ukraine ein Völkermord begangen? Ja, sagt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wegen der vielen getöteten Zivilist:innen in Butscha. „Das sind Kriegsverbrechen und sie werden von der Welt als Völkermord anerkannt werden.“

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Konfliktparteien beschuldigen sich häufig gegenseitig des Völkermords. Meist geht es darum, die internationale Aufmerksamkeit zu erhöhen. Doch auch US-Präsident Joe Biden sprach mit Blick auf die Ereignisse in der Ukraine bereits von Völkermord, die baltischen Staaten Litauen, Estland und Lettland haben dies in Entschließungen sogar bereits anerkannt.

Der russische Präsident: Wladimr Putin.
Der russische Präsident: Wladimr Putin.

© Mikhail Metzel/Sputnik/AFP

In Deutschland sind die Stimmen verhaltener. Ein schlimmeres Verbrechen als den Völkermord kennt das Völkerstrafrecht nicht, geahndet wird er mit lebenslanger Freiheitsstrafe. Nach § 6 des Völkerstrafgesetzbuchs ist Voraussetzung für den Völkermord, dass in der Absicht gehandelt wird, eine nationale, rassische, religiöse oder ethnische Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. So steht es in Artikel II der UN-Antivölkermordkonvention, die 1948 angenommen wurde.

Der Völkerrechtler Christian Marxsen vom Max-Planck-Institut für Ausländisches Öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg sieht den Nachweis für einen Völkermord an der Ukraine nicht als erfüllt an.

„Will Russland wirklich die Menschen in der Ukraine zerstören?“

Intention des russischen Präsidenten Wladimir Putin sei es nicht, das Volk als solches zu zerstören, argumentiert Marxsen im Gespräch mit dem Tagesspiegel. „Will Russland wirklich die Menschen in der Ukraine zerstören?“

Seines Erachtens nach gehe es eher um die ukrainische Identität. „Der Ukraine soll ein anderes politisches System übergestülpt werden. Auch das ist eindeutig völkerrechtswidrig, aber da muss man sehr genau hingucken.“

Nach jahrelangen Diskussionen hatte der Bundestag 2016 eine Resolution zur Anerkennung des Genozids in Armenien verabschiedet. Den Antrag dazu hatten Union, SPD und Grüne gemeinsam eingebracht, er gilt als wichtiges Zeichen für das Land.

„Ich finde es eine problematische Tendenz, vorschnell die schärfsten juristischen Register zu ziehen. Auch die anderen Verbrechen, die Russland vorgeworfen werden können, werden schwer geahndet,“ sagt Marxsen. Zum jetzigen Zeitpunkt sei es schwer, eine definitive Aussage zu treffen.

„Mein Gefühl sagt mir, dass wir es hier mit einem Genozid zu tun haben“

Wenn es nach dem Rechtspolitiker und parlamentarischen Geschäftsführer der FDP-Fraktion Stephan Thomae geht, könnte es bald eine Resolution im Bundestag geben, die das Vorgehen Russlands gegen die Ukraine als Völkermord einstuft.

„Mein Gefühl sagt mir, dass wir es hier mit einem Genozid zu tun haben“, sagt Thomae dem Tagesspiegel. „Als Jurist ist mir aber klar, dass es einer gründlichen Prüfung bedarf, ob die Merkmale eines Völkermords vorliegen. Die Latte dafür liegt hoch.“ Für eine solche Prüfung will Thomae sich nun stark machen.

„Es gibt Meldungen, dass hunderttausende ukrainische Kinder nach Russland verschleppt worden seien. Und das gewaltsame Überführen von Kindern in eine andere Gruppe ist eine geradezu klassische Taktik, um ein Volk auszulöschen.“

Auch dass Putin überhaupt die Existenz des ukrainischen Volkes als solches leugne, sieht Thomae als eindeutiges Indiz, alles Ukrainische zu tilgen. „Darin manifestiert sich doch, wie sehr Putin dieses Land vernichten will.“

FDP-Fraktion zieht Antrag auf Resolution in Betracht

Seine Fraktion stehe gerade am Anfang von Beratungen und tausche sich mit Völkerrechtler:innen aus. „Wir diskutieren intensiv darüber und beobachten die Geschehnisse. Wir wollen ein parlamentarisches Verfahren auf Einstufung als Völkermord nur dann in Gang setzen, wenn eine solche Einstufung auch rechtlich gesichert ist.“

Ein Vorteil der Einstufung sei es, dass man damit nicht nur gegen Soldaten und Offiziere im Krieg vorgehen könne, wie bei Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit. „Ermittlungen wegen Völkermordes richten sich unmittelbar gegen die russische Staatsführung.“

Auch der Generalbundesanwalt als höchste deutsche Anklagebehörde könnte wegen Völkermordes gegen Putin ermitteln. „Es gab bereits den Fall, dass der Generalbundesanwalt Angehörige des syrischen Geheimdienstes, gegen die Foltervorwürfe erhoben worden sind, vor ein deutsches Gericht gestellt hat.“ 

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Es sei zwar ein absoluter Ausnahmefall, dass nationale Strafverfolger ermitteln, obwohl weder Täter noch Opfer noch der Ort der Tat etwas mit Deutschland zu tun haben. „Aber das deutsche Völkerstrafgesetzbuch macht genau das möglich.“

Mit seiner Einschätzung zur Situation in der Ukraine steht Thomae nicht alleine da. Der Hamburger Völkerrechtler Otto Luchterhandt kommt in einer Fallstudie zu dem Ergebnis, dass die Abriegelung und systematische Zerstörung der Hafenstadt Mariupol durch die russischen Streitkräfte den Tatbestand des Völkermordes erfüllt und Putin dafür strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen ist.

Völkerrechtler erkennt „genozidale Zerstörungsabsicht“

Auch den Vorsatz des Verbrechens sieht er als erwiesen an. Denn die russische Armee gehe mit „genozidaler Zerstörungsabsicht“ gegen „die Bürgerschaft der Stadt in ihrer Gesamtheit“ vor und nicht nur gegen einzelne Bürger, die zufällig Opfer werden.

Täter sei Putin persönlich, denn er müsse sich als Oberkommandierender der Streitkräfte Russlands das objektiv genozidale Vorgehen der seiner Befehlsgewalt unterstehenden Truppen gegen die Zivilbevölkerung zurechnen lassen und habe das Schicksal Mariupols zur „Chefsache“ gemacht. „Die Einkreisung und Abriegelung der Stadt, die systematische Zerstörung der Wohnviertel, die Dauerbombardements der Zivilbevölkerung und das Aushungern der Bevölkerung beruhten letztlich auf seinen Befehlen.“

Ehemalige Bundestagsabgeordnete der Grünen: Marieluise Beck.
Ehemalige Bundestagsabgeordnete der Grünen: Marieluise Beck.

© Revierfoto/dpa

Auch die ehemalige Bundestagsabgeordnete der Grünen und Mitbegründerin der NGO Liberale Moderne, Marieluise Beck, die die Ukraine selbst besucht hatte, sieht Anzeichen für einen Völkermord. Dazu zähle, dass Putin der Ukraine das Existenzrecht als Nation und die Identität als Volk abgesprochen habe.

Auch gezielte Angriffe auf Zivilisten und das Versperren von Fluchtwegen für die Zivilbevölkerung sprächen dafür, ebenso wie Entzug der Lebensgrundlagen, Massenvergewaltigungen, Deportationen nach Russland und die Trennung von Kindern von ihren Familien zur Russifizierung.

„Nach meiner Erfahrung mit Bosnien gehe ich davon aus, dass eines Tages ein internationales Gericht feststellen wird, dass die russische Armee in verschiedenen Orten der Ukraine für einen Genozid verantwortlich ist“, sagt Beck dem Tagesspiegel. „Das kommt für die Opfer zu spät. Aber es wird für die historische Einordnung dieses Krieges von Bedeutung sein und für die Benennung der Verantwortlichen.“

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