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Übergangsweise führt Marc Herter die NRW-SPD. Wird er im August offiziell ihr Vorsitzender?

© dpa/Bernd Thissen

NRW-SPD ohne Führung: Die Partei kürt ihre Spitze kungelnd im Hinterzimmer

Die SPD im größten Bundesland ist inhaltlich und personell blank. Nun sucht sie eine neue Spitze. Nicht aber mit einem transparenten Prozess, sondern im alten Trott.

Im Flur der SPD-Geschäftsstelle Herne präsentiert die Partei die Erfolge ihrer Geschichte. „Wählt die Liste der Sozialdemokratischen Partei!“ lautet die Überschrift einer Parteizeitung, in Frakturschrift, über 100 Jahre alt.

Zwei Etagen, etliche Büros, ein Sitzungssaal plus Balkon, Garten und Schuppen für die Wahlplakate: Die Herner SPD residiert auf viel Raum. Gemauerter Machtanspruch. Im Sekretariat steht Willy Brandt in Bronze. Bei der „Willy-Wahl“ 1972 holte die SPD im hiesigen Wahlkreis 67 Prozent.

Lang ist’s her. In Nordrhein-Westfalen, wo Sozialdemokraten viele Jahre mit absoluter Mehrheit regierten, koalieren heute CDU und Grüne. 26,7 Prozent für die SPD bei der Landtagswahl 2022 waren ein Nackenschlag. Mehrere Ruhrgebietsstädte haben längst CDU-Oberbürgermeister.

Führungslose Partei

Seit fast drei Monaten ist die NRW-SPD formal führungslos. Nach allerlei Querelen hatte Partei- und Fraktionschef Thomas Kutschaty seine beiden Ämter hingeschmissen. Demnächst könnte eine Vorentscheidung fallen, wer künftig die Partei führen wird. Am Freitag wird der Vorstand der NRW-SPD beraten. Den 22. Juni hatten sich die Genossen als inoffizielle Bewerbungsfrist gesetzt. Offiziell soll ein Parteitag in Münster am 26. August den Vorsitzenden wählen.

Wir sind die Generation, die dafür verantwortlich ist, dass die NRW-SPD wieder stärkste politische Kraft wird.

Michelle Müntefering, Mitglied des SPD-Parteivorstandes

In der jüngsten Landtagswahl-Umfrage liegt die SPD bei 22 Prozent, während die CDU bei 36 Prozent taxiert wird und sich Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) gerade erst etabliert. Immerhin, Anspruch und Ehrgeiz gibt es noch in der SPD. „Wir sind die Generation, die dafür verantwortlich ist, dass die NRW-SPD wieder stärkste politische Kraft wird“, sagt Michelle Müntefering, 43, Bundestagsabgeordnete aus Herne.

Ohne NRW-SPD keine Kanzlerschaft

Mit Argusaugen blickt die Bundes-SPD auf ihre Parteifreunde im 18-Millionen-Einwohner-Land NRW. Kanzler Olaf Scholz weiß: Sollte die NRW-SPD bei der nächsten Bundestagswahl schwächeln, war es das mit der Kanzlerschaft. Es geht also um viel, sehr viel, oder, wie Sozialdemokraten an Rhein und Ruhr sagen, um: alles.

„Die NRW-SPD wird der Garant dafür sein müssen, dass wir Deutschland über 2025 hinaus regieren“, sagt Müntefering, während sie in ihrer Lieblings-Pizzeria in Herne zu einem Streifen Thunfischpizza greift: „Wir stehen vor der größten Herausforderung für die Demokratie unseres Landes seit 1945.“

Was aber muss der oder die künftige SPD-Vorsitzende in NRW können, Frau Müntefering? „Ein Verständnis davon, was in NRW täglich in Schulen, Städten, Bahnhöfen und Krankenhäusern passiert“, sagt Müntefering. Sie selbst will nicht kandidieren, ihr reicht ihr Vorstandsamt, hat sich jüngst aufstellen lassen für die Europawahl 2024.

Jochen Ott führt die Fraktion

Seitdem Ex-Partei- und Fraktionschef Kutschaty die Handtücher geworfen hat, müht sich die Partei um eine Neusortierung ihrer nur noch bescheidenen Macht. An der Spitze der Fraktion setzte sich im Mai der Kölner Bildungspolitiker Jochen Ott, 49, durch. Er ist ein erfahrener Netzwerker. Die Partei wird übergangsweise geführt von dem Westfalen Marc Herter, 49, vier Wochen jünger als der Rheinländer Ott. Herter ist seit dem Jahre 2020 Bürgermeister von Hamm.

Will Herter die SPD dauerhaft führen? Auch in einer Doppelspitze? Falls ja: Mit wem? „Auch Frauen sollten in der Partei in wichtigen Funktionen sichtbar Verantwortung übernehmen“, sagt Michelle Müntefering. Herter hält sich bedeckt. Er äußert sich zur künftigen personellen Aufstellung der Partei und seiner Zukunft dabei öffentlich nicht. Als mögliche Kandidatin neben Herter wird Entwicklungsministerin Svenja Schulze gehandelt. Auch Schulze schweigt. In der Partei herrscht Skepsis, ob das reiseaufwändige Ministeramt genug Zeit für Unterbezirkskonferenzen lässt.

Ott wirbt für „unterschiedliche Charaktere“

Fraktionschef Ott empfängt in seinem Landtagsbüro mit Blick auf den Rhein. Er strebt den Parteivorsitz nicht an, er sei jetzt „Angriffsspieler im Landtag“. Ott will eine breitere Aufstellung, „unterschiedliche Charaktere“. Personen mit „hoher Akzeptanz und Teamgeist“.

Auf bemerkenswerte Weise also kürt die NRW-SPD ihre Spitze. Es handelt sich um die klassische Hinterzimmer-Politik, das Kungeln zwischen Regionen und im Landesvorstand. Die Gremienpolitiker entscheiden. „Es ist ein politischer, kein formeller Prozess“ – so drückt das die SPD aus: „Theoretisch können bis zum oder auf dem Landesparteitag Personen aufstehen.“ Theoretisch – das sagt allerhand.

Mit ihrer Vorsitzenden-Suche beschreitet die NRW-SPD das exakte Gegenmodell zu ihrer Bundespartei. Dort legte der Vorstand 2019, nach dem Rücktritt von Andrea Nahles, die Macht in die Hände der SPD-Mitglieder. Jeder Sozialdemokrat durfte wählen. Sechs Paare kandidierten, es gab 23 Regionalkonferenzen, über 15.000 Mitglieder kamen. Am Ende setzten sich Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans durch, gegen Klara Geywitz und Olaf Scholz.

Die Partei feierte sich für frischen Wind, offene, transparente Verfahren, den Sieg über Kungelrunden, Gremien, Hinterzimmer. Ein neuer Stil wurde beschworen, Dialog, Transparenz, solche Sachen. Nur nach diesem Verfahren sei die Wahl von Olaf Scholz zum Kanzler möglich gewesen, heißt es seither in der SPD über diesen neuen Weg. Die NRW-SPD hingegen hat sich für den alten Trott entschieden.

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