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Wolfgang Schäuble im Dezember 2022 im Bundestag.

© Imago/Christian Spicker

Schäubles Vermächtnis: Die Lehre von Maß und Mitte

Er war nie die Nummer eins, aber sein Denken und sein Handeln sollten der deutschen Politik Verpflichtung sein. Besonders einem: Friedrich Merz.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Stolze 81 Jahre ist er geworden, und wenn richtig ist, dass die Jahre eines Politikers in hoher und höchster Verantwortung doppelt zählen, dann ist das eine lange, lange Spanne. Zumal, wenn außerdem einer 33 Jahre im Rollstuhl sitzt. Wolfgang Schäuble hat sein Leben der Politik gewidmet, in einem Maße, dass man schon auch von einer Epoche reden kann. Darum liegt die Frage nahe: Gibt es aus seiner Zeit ein Vermächtnis?

Die Epoche Schäuble: Er war Binnenkanzler, Schattenkanzler, Schatzkanzler. Seine Funktionen haben ihn geprägt, und zwar in seinem Anspruch. Er hat das Land, besonders das mit seiner Hilfe wiedervereinigte Land, maßgeblich mitgestaltet. Dass die Republik heute so ist, wie sie ist, ist auch sein Werk.

Ein Statiker der Macht war er, was zu seinem Ehrentitel „Architekt der Einheit“ passt. Die erste Lehre aus seinem Wirken lautet deshalb, stets darauf zu achten, dass das Kräfteparallelogramm der Politik austariert ist. Was nach innen wie nach außen gilt, in der Partei, in der Innenpolitik, der Außenpolitik, besonders in Europa. Wer etwas von den anderen will, Parteifreunden, Koalitionären, Staaten, muss zu geben bereit sein. Kompromisse sind von Wert.

Womit wir bei der zweiten Lehre sind, eigentlich Schäubles Mantra: Maß und Mitte. Maßhalten sowieso, das hat er zuletzt in Regierungsverantwortung als Finanzminister dokumentiert. Aber eben auch alles nicht zu übertreiben, nicht ins Extreme zu steigern. Dazu ebenfalls ein Beispiel aus der Finanzpolitik, eines aus der jüngeren Zeit. Da riet auch er, der „Herr der schwarzen Null“, die Schuldenbremse für Zukunftsinvestitionen zu reformieren.

Politik auf der Grundlage eines Wertegerüsts

Die Mitte, das war sein Lebensthema. Die CDU, Nachfahrin der Zentrumspartei früherer Zeiten, sollte immer das sein: Zentrum, nicht Rand. Ja, Schäuble hat sich zuweilen in den Augen der Betrachter an die Ränder begeben; aber wer heute zum Beispiel seine Reformrede auf dem CDU-Bundesparteitag in Berlin 1993 nachliest, wird erstaunt sein, wie aktuell sie klingt, von der Finanz- über die Sozial- bis hin zur Sicherheitspolitik im Zusammenspiel mit den Verbündeten. Mut zu Zumutungen – und dann kann man die Menschen in der Mitte gewinnen, wenn man ihnen das Notwendige nur gut genug erklärt.

Im Grunde ist die Vorstellung von Maß und Mitte abgeleitet von Hannah Arendts Satz, wonach Realitätsflucht begeht, wer Fakten als bloße Meinungen ansieht. Mit ähnlichen Worten hat es Schäuble auch oft gesagt, nicht zuletzt seinen Parteifreunden. Daraus erwächst die dritte Lehre: Verantwortungsethisch zu handeln.

Diesen Anspruch hat Schäuble nicht allein, den hat auch stets Erhard Eppler, ein anderer geistvoller Baden-Württemberger, einer von den Sozialdemokraten, erhoben. Doch konnte Schäuble länger als Eppler den Unterschied zwischen Wert- und Strukturkonservativismus im (Regierungs-)Handeln deutlich machen.

Sagen wir so: Es geht darum, Angemessenheit auf der Grundlage eines Wertegerüsts zu prüfen. Wohlgemerkt zu prüfen. Schäuble lehrt, viertens, nicht missionarisch vorzugehen, sondern pragmatisch, sachlich auf den nächsten Schritt zu schauen, ob der gangbar ist – aber ihn dann auch zu gehen.

Der Politiker als ein Mann der Polis, kein Heilsprediger, keiner mit frontalen Botschaften, an denen sich alle auszurichten hätten. Schäubles Zuspitzungen kamen am Ende eines gedanklichen Prozesses, nicht an ihrem Anfang; an dem standen oft Fragen, ob etwas wirklich so sein kann oder sein soll. Eher tastend, wägend, eher ungefähr, weil auslegungsfähig. Das ist, was man „schäublesch“ nennen kann.

Alles das taugt als Lehre im Übrigen besonders für einen, den Schäuble mochte, den er förderte, den er als einzigen in der Fraktion duzte: Friedrich Merz. Wenn der das Vermächtnis von Maß und Mitte annehmen wollte, dann könnte er das werden, was dem großen Staatsdiener verwehrt blieb: die Nummer 1, der Bundeskanzler. Vielleicht. Denn Wolfgang Schäubles politisches Leben lehrt ja auch, dass nicht alle Ziele erreichbar sind.

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