zum Hauptinhalt
Böller und Raketen steigen auf der Straße an der Oberbaumbrücke in die Luft, während Passanten vorbeigehen.

© Paul Zinken/dpa

Krankenhäuser vor dem Kollaps: Lasst an Silvester das Böllern!

Der Verkauf von Feuerwerk ist dieses Jahr wieder erlaubt. Man sollte die Silvester-Knallerei trotzdem vermeiden – oder sehr vorsichtig sein.

Ein Kommentar von Tobias Mayer

Meine Freundin ist Kinderärztin in einem Krankenhaus. Kürzlich hatte sie einen von vielen besonders langen und anstrengenden Diensten. Er dauerte 27 Stunden mit nur einer knappen halben Stunde Schlaf zwischendrin, nach der sie frühmorgens für einen Kaiserschnitt geweckt wurde und ein Neugeborenes reanimieren musste.

Mit ihrer Arbeitsbelastung ist meine Freundin kein Einzelfall. Für mich ist sie der sichtbarste Beweis eines Gesundheitssystems, das seine Mitarbeitenden auslaugt – besonders in den kaputtgesparten Kinderkliniken, darüber hinaus aber auch in allen anderen kaputtgesparten Krankenhäusern.

Das Ärzte- und Pflegepersonal berichtet von permanentem Schlafmangel und Dauerstress. „Charité – come in and burn out“ stand Anfang Oktober auf einem Protestschild vor der großen Berliner Uniklinik. Fast 1000 Mediziner:innen waren an der Charité in einen seltenen Streik getreten, bei dem es neben Lohn eben auch um Schichten und Dienstpläne ging.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Das Krankenhauspersonal ist erschöpft

Das Problem besteht im ganzen Land. Die enormen Belastungen der Coronapandemie und im Herbst 2022 die Welle von Atemwegserkrankungen insbesondere unter Kindern trafen Krankenhäuser, deren Personal auch so bereits überarbeitet war. Ich bin sicher: Vielerorts kann der Laden nur am Laufen gehalten werden, weil Mediziner:innen und Pflegende dafür die eigene Gesundheit opfern.

Die Coronajahre waren hart – und jetzt kommt auch noch Silvester. Viele Menschen suchen die Notaufnahme in dieser Nacht mit Verbrennungen und ähnlichen Verletzungen auf. Das sorgt mit dafür, dass Silvester als die arbeitsintensivste Krankenhausnacht des Jahres gilt. Eine übermüdete, personell durch Krankheit und Sparzwang dezimierte Besetzung darf nicht selbst feiern, sondern muss bei Patient:innen die extremen Auswirkungen des Feierns behandeln – zusätzlich zu den Menschen, die aus anderen Gründen in die Notaufnahmen kommen.

Im Krankenhaus ist Silvester die anstrengendste Nacht des Jahres

Weniger Feuerwerk bedeutet weniger Arbeit in den Krankenhäusern. Zum Vergleich: Das Unfallkrankenhaus Berlin verzeichnete zum Jahreswechsel 2019/2020, als kein Verkaufsverbot galt, 45 Verletzte durch Feuerwerkskörper. 2021/2022 hingegen, als der Verkauf von Feuerwerk coronabedingt verboten war, waren es nur 15 Verletzte.

Der Blick auf die Lage in ganz Deutschland bestätigt den Eindruck aus Berlin: Dr. Jörn Wegner, Pressereferent der Deutschen Krankenhausgesellschaft, verweist auf eine Hochrechnung, wonach sich zum Jahreswechsel 2020/2021 die Zahl der Verletzten in den Notaufnahmen Deutschlands um zwei Drittel reduziert habe. Auch damals galt ein Verkaufsverbot für Feuerwerk.

Zu Silvester 2022 ist der Verkauf von Feuerwerk wieder erlaubt und damit Eigenverantwortung das Stichwort der Silvesterstunde. Bei echter Eigenverantwortung wird stets auch die Verantwortung für andere mitgedacht. Zum Beispiel die Verantwortung für die lebensrettende Infrastruktur aus Krankenhäusern und ihrem Personal. Sie geht jeden Menschen in Deutschland etwas an. Die gute Nachricht: Jeder und jede von uns kann etwas dazu beitragen, das Arbeiten in den Kliniken zumindest ein bisschen angenehmer zu machen.

Wer nicht böllert, muss wahrscheinlich auch nicht in die Notaufnahme

Das Folgende mag belehrend klingen, aber im Angesicht der Notsituation in den Krankenhäusern komme ich gerne wie eine Spaßbremse rüber. Also: Potentielle Patient:innen, die auf die eigene Knallerei verzichten und vielleicht stattdessen ein öffentliches Feuerwerk besuchen, verhindern sehr wahrscheinlich, an Silvester zu einer weiteren vermeidbaren Belastung eines überlasteten Gesundheitssystems zu werden.

Wer dennoch Böllern möchte, sollte auf keinen Fall illegales oder selbstgebautes Feuerwerk zünden. Generell sollte man beim Anzünden sehr vorsichtig sein – und nüchtern, sorgt Alkohol doch in vielen Fällen für eine unsachgemäße Benutzung des Feuerwerks und erhöht somit das Risiko für Verletzungen.

Besonders angesprochen dürfen sich jüngere Männer fühlen. Das untermauern die Zahlen zu den stationären Behandlungen, also den Fällen mit längerem Krankenhausaufenthalt infolge von Feuerwerksverletzungen. Was Verletzungen in Zusammenhang mit Gegenständen betrifft, darunter auch solche durch Feuerwerk, sieht es so aus:

Zu den Jahreswechseln 2019 und 2020 waren 66 Prozent und 75 Prozent der stationär behandelten Patient:innen jünger als 40 Jahre alt. Dabei macht diese Altersgruppe nur einen Anteil von gut 40 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Die Daten der Deutschen Krankenhausgesellschaft zeigen auch, dass zu mehr als 80 Prozent Männer betroffen waren.

Die Krankenhausgesellschaft legte keine Daten zu den ambulanten Fällen vor. Sie machen aber ein Vielfaches der stationären Behandlungen aus, hieß es.

Sicher: Vorsicht und Verzicht bei Knallerei und Raketen würden die enormen, jahrelang nicht angegangenen Probleme in den Krankenhäusern keineswegs lösen. Das bleibt zuallererst eine Aufgabe der Politik, und man kann nur hoffen, dass die jüngste Reformidee von Gesundheitsminister Karl Lauterbach tatsächlich dazu beitragen wird, die Arbeitsbedingungen von Ärzt:innen und Pflegenden merklich und nachhaltig zu verbessern.

Bis dahin aber können wir alle durch unser Verhalten zum Jahreswechsel ein wenig zur Entlastung von all denen beitragen, die die Silvesterfeiern bei der Krankenhausarbeit höchstens aus der Ferne mitbekommen – und ausgebrannt sind wie Feuerwerk am Abend des 1. Januars.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false