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Kanzler Scholz und der türkische Präsident Erdogan.

© AFP/Tobias Schwarz

Erdogans Besuch war der Beweis: Die deutsche Türkei-Politik ist gescheitert

Deutschlands Haltung zu Erdogan muss neu gedacht werden. Seine Ungeheuerlichkeiten wurden zu lange geduldet. Nun muss die demokratische türkische Zivilgesellschaft gestärkt werden.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Wird es nicht Zeit, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen? Recep Tayyip Erdogan zeigt es: Die deutsche Türkei-Politik in ihrer heutigen Form ist gescheitert. Es wird Zeit, das einzugestehen und einen neuen Ansatz zu suchen.

Der türkische Präsident führt Deutschland vor, mit Vorsatz. Er beleidigt den Bundespräsidenten und „den anderen“, den Kanzler. Niemand kann nach Erdogans wiederholten islamistischen Äußerungen ernstlich davon ausgehen, er wäre durch eine EU-Mitgliedschaft zu einem Demokraten geworden. Die Westbindung durch die Nato-Mitgliedschaft über Jahre hat es auch nicht vermocht, ihn in der Hinsicht zu beeinflussen oder gar zu läutern.

Eine EU mit der gegenwärtigen Türkei hätte vielmehr noch größere Probleme als ohnehin schon. Die Mitgliedsstaaten schaffen es seit Jahren schon nicht, mit Ungarns Viktor Orbán fertig zu werden – und Erdogan teilt Europas Werte in Bezug auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit noch weniger. Im Gegenteil, die Islamisierung der Türkei schreitet fort.

Aber anstatt auf die vorhandene demokratische türkische Zivilgesellschaft zu hören, die einen Kurswechsel anmahnt, werden Erdogans Ungeheuerlichkeiten geduldet. Weil er für Flüchtlingsdeals zu wichtig ist? Das ist als Begründung auf Dauer armselig opportunistisch. Und einer wie er nimmt die Milliarden auch so. Außerdem braucht sie seine Regierung. Oder soll man besser sagen: sein Regime?

Jahr für Jahr verlassen Tausende unter Protest die Türkei, allein in diesem Jahr 50.000 Richtung Deutschland. Sie suchen eine freiheitlich-demokratische Alternative. Und die Antwort darauf ist, weiter und weiter einem EU-Beitritt der Türkei das Wort zu reden.

Nötig ist jetzt Widerstand gegen einen politischen Islam, der nicht zusammenführt, sondern auseinandertreibt.

Stephan-Andreas Casdorff, Tagesspiegel-Herausgeber

Die Türkei hat nicht einmal die Zollunion voll umgesetzt, die Anforderungen an die Mitgliedschaft in einer Wertegemeinschaft erfüllt sie weniger und weniger. Das aber ist die Europäische Union: mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft.

Dass Erdogan vielleicht doch ein Reformer sei, seine Partei eine Art muslimischer CDU – welch ein Fehlglaube. Nötig ist jetzt Widerstand gegen einen politischen Islam, der nicht zusammenführt, sondern auseinandertreibt.

Eine klarere Haltung ist auch schon deswegen dringend nötig, um die hier lebende dritte Generation türkischstämmiger Deutscher von den Vorzügen und den Grundwerten einer pluralistischen Gesellschaft zu überzeugen. Diese an Erdogans Denkweise zu verlieren, kann sich Deutschland erst recht nicht leisten.

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