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China als Weltmacht (Illustration)

© Verena Schulz für den Tagesspiegel

Nach Spanien, Frankreich, Großbritannien und den USA: Ist China nun einfach mal an der Reihe als Großmacht? 

Es gibt Gründe anzunehmen, dass die USA die Nummer 1 der Welt bleiben, aber auch dafür, dass China den Platz erobert. Das Rennen ist weniger vorhersagbar, als manche Geopolitiker glauben.

Ein Gastbeitrag von Harold James

Hinter der heutigen globalen Unordnung stehen zwei miteinander verbundene Narrative über die relativen Stärken und Schwächen der Länder im Wettbewerb um die Weltmacht. Die eine handelt vom langfristigen Aufstieg und Fall von Nationen und Zivilisationen, die andere von sehr viel kürzeren Zyklen.

Der langfristige Blick in die Zukunft erfolgt durch die einfache – und daher scheinbar zwingende – analytische Linse der Geopolitiker. Ihre Handlungsstränge sind immer klar: Ein Land dominiert die Welt für ein Jahrhundert oder so, bevor damit Schluss ist, weil es erschöpft und diskreditiert ist.

Beispiel dafür finden sich in dem Buch „Aufstieg und Fall der großen Mächte“ des britischen Historikers Paul Kennedy von 1987, das bis heute die Debatte bestimmt. Wie er darlegt, war Spanien von Mitte des 15. bis Mitte des 16. Jahrhunderts der Hegemon, gefolgt von Frankreich im 18. Jahrhundert, Großbritannien im 19. Jahrhundert und den Vereinigten Staaten nach 1945. Dieser langfristige Rahmen impliziert, dass China nun an der Reihe ist.

Wird eine Groß- oder Supermacht von einer anderen abgelöst, führt das häufig zu Spannungen und Kriegen, da die alte, im Niedergang begriffene Macht versuchen wird, den Aufstieg des Herausforderers zu verhindern. Allerdings führt dies tendenziell zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung: In jedem von Kennedys historischen Fallbeispielen wurde der Untergang der Großmacht durch einen militärischen Konflikt beschleunigt.

Im gegenwärtigen Kontext ist die „Entkoppelung“ der amerikanisch-chinesischen Beziehungen das Ergebnis nahezu symmetrischer Ängste auf beiden Seiten.

Die Amerikaner beschuldigen China, die regelbasierte internationale Ordnung unter Führung der USA systematisch zu untergraben, Technologie und geistiges Eigentum zu stehlen, rote Linien mit Spionageballons zu überschreiten, Regierungsbehörden zu hacken und Desinformationen zu verbreiten, um das Vertrauen in das politische System der USA zu untergraben.

Umgekehrt hat die chinesische Regierung aus Furcht vor den Erkenntnissen, die die USA aus ihren Überwachungs- und Geheimdienstaktivitäten gewinnen könnten, gerade die Veröffentlichung von Wirtschaftsdaten eingeschränkt und neue Gesetze gegen Spionage eingeführt.

Ein beträchtlicher Teil der chinesischen Bevölkerung – und auch die chinesische Führung – sind davon überzeugt, dass Amerika den natürlichen Aufstieg Chinas verhindern will, der China ihrer Ansicht nach ins „Jahrhundert der Demütigung“ zurückversetzen würde, als es von den westlichen Mächten und Japan unterjocht wurde.

Auch die chinesische Führung ist überzeugt, dass Amerika den natürlichen Aufstieg Chinas verhindern will.

© Imago/Xinhua/Wang Ye

Solche längerfristigen Perspektiven treffen aber manchmal auf kurzfristige Überlegungen. In den letzten Monaten haben beispielsweise Politiker und Journalisten im gesamten Westen kurzfristige Veränderungen im Wachstum des nationalen Einkommens extrapoliert, um Vorhersagen darüber zu machen, wer das neue große Spiel gewinnen oder verlieren wird.

Auch als es der deutschen Wirtschaft zu Beginn des neuen Jahrtausends schlecht ging, sprachen Kommentatoren schnell von Deutschland als dem „kranken Mann Europas“. Dann schaffte Deutschland als einer der Hauptnutznießer der Globalisierung ein außergewöhnliches Comeback. Doch nun, da seine relative Wirtschaftsleistung sinkt, wird es erneut zum kranken Mann Europas erklärt.

Der Blick geht wieder auf aktuelle Wirtschaftszahlen

Auch heute konzentrieren sich die Kommentatoren stark auf die wirtschaftlichen Probleme Chinas, insbesondere die hohe Jugendarbeitslosigkeit und den zusammenbrechenden Immobilienmarkt. Beides steht im Kontrast zu dem neuen Investitions- und Produktionsboom in Amerika, der auf wichtige Gesetze wie den Inflation Reduction Act zurückzuführen ist.

Wer diese Perspektive einnimmt, kommt zu dem Schluss, dass China schwächelt und Amerika immer noch der Platzhirsch ist. Weit davon entfernt zu schrumpfen, profitiert Amerika von der Abwicklung der Globalisierung, während die großen exportorientierten Volkswirtschaften (wie China und Deutschland) leiden.

Ein solcher Optimismus – man könnte auch sagen: Eine solche Hybris – nährt Chinas Ängste, weil er starke historische Parallelen hervorruft. Hegemonen können bösartig auf vermeintliche Herausforderer reagieren und tun dies in der Regel auch: Großbritannien zerstörte China im frühen 19. Jahrhundert, indem es das Land mit Opium überschwemmte, und die USA wehrten eine japanische Herausforderung im späten 20. Jahrhundert ab.

Man vergisst leicht, dass in den 1980er und frühen 1990er Jahren die Besorgnis der USA über den unlauteren industriellen Wettbewerb Japans groß war. Als 1991 die japanische Vermögensblase platzte, vermuteten viele Japaner aufgrund der Rolle der US-Politik bei der unhaltbaren Schuldenanhäufung Japans in den 1980er Jahren eine amerikanische Verschwörung.

Dieses Szenario lässt sich leicht auf den heutigen Kontext übertragen. War der starke Anstieg der Vermögenspreise in China in den 2010er-Jahren (einschließlich des spekulativen Immobilienbooms) nicht teilweise das Ergebnis der lockeren US-Geldpolitik nach der globalen Finanzkrise?

Die traurige Wahrheit ist, dass weder das langfristige noch das kurzfristige Narrativ hilfreich ist, wenn es darum geht, die politischen Probleme der Gegenwart zu lösen. Es gibt kein historisches Gesetz, das die Dauer von Vormachtstellungen beschreibt. Politische Entscheidungsträger müssen solchen Sirenengesängen widerstehen.

Am Ende sind kurzfristige Schwankungen wohl der schlechtere Ratgeber. Denn viele Länder, die von der Globalisierung profitierten, haben Rückschläge erlebt, um sich dann anzupassen und gestärkt weiterzumachen. Eine platzende Immobilienblase muss China nicht zerstören, so wie der Zusammenbruch des Immobilienmarktes 2008 die USA nicht zerstört hat.

China könnte abermals aus den Erfahrungen anderer asiatischer Volkswirtschaften wie Südkorea lernen, die in den 1970er Jahren (Ölkrise), Anfang der 1980er (internationale Schuldenkrise) und erneut Ende der 1990er (asiatische Finanzkrise) schwere Verwerfungen erlebten. Jedes Mal passte das Land sein Wachstumsmodell an und florierte.

Alle wollen eine einfache Geschichte. Aber die eigentliche Aufgabe der historischen Analyse sollte darin bestehen, deterministische Narrative zu demontieren, nicht darin, in ihnen zu schwelgen.

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