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Mal unwiderstehlich, mal unerträglich. Andreas Kleinert schuf ein wild-existenzialistisches Biopic über den 2001 jung gestorbenen DDR-Schriftsteller Thomas Brasch mit Albert Schuch in der Hauptrolle.

© Peter Hartwig/Wild Bunch Germany/dpa

Vor der Verleihung des Deutschen Filmpreises: Die Filmkunst, ein deutsches Trauerspiel

Am Freitag findet in Berlin die Filmpreis-Gala statt. Bei der 72. Lola-Verleihung ist das Brasch-Biopic „Lieber Thomas“ Favorit. Ein Krisenreport.

„Lieber Thomas“ oder „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“, wer gewinnt die Lola an diesem Freitag, bei der Gala im Berliner Palais am Funkturm?

Beide gehen beim 72. Deutschen Filmpreis als Favoriten ins Rennen, mit zwölf Nominierungen und zehn Nominierungen bei den sechs Kandidaten für den besten Film.

Beide verhandeln Zeitgeschichte, Andreas Kleinerts wild-existenzialistisches Biopic über den 2001 jung gestorbenen DDR- Schriftsteller Thomas Brasch ebenso wie Andreas Dresens Polit-Tragikomödie über den Kampf von Rabiye Kurnaz für die Freilassung ihres unschuldig in Guantanamo inhaftierten Sohns. Allein gegen den Staat, allein gegen die Weltpolitik.

Wenn es mit rechten Dingen zugeht, dürfte „Lieber Thomas“ die Lola in Gold davontragen. Das in unbändigem Schwarz-Weiß gedrehte Drama setzt Braschs Fremdsein in der DDR und später im Westen ins Bild, mit Albert Schuch als mal unwiderstehlichem, mal unerträglichem Lederjacken-Macho, der sich die Freiheit ertrotzt, die ihm verwehrt bleibt.

Der nach seiner Ausreise als Underground-Star in West-Berlin und New York hofiert wird und dennoch einsam bleibt wie ein Hund.

Der Filmpreis ist Instrument der Kulturförderung

Kleinert hat für das verwegene Denken seines Helden einen Bilderreigen geschaffen, bei dem er Fragmente aus dem Leben einer überbordenden, dissidentischen, verzweifelten Existenz montiert. Erinnerungssplitter, Traumsequenzen, dokumentarische Szenen, harte Schnitte, Verwundungen: ein Film, der Glas zerkaut, wie der Junge, der in der Kadettenanstalt neben dem aufmüpfigen kleinen Thomas liegt.

Und mit großartigen Schauspielern, neben Schuch vor allem Jörg Schüttauf als jüdisch-kommunistischer Remigrant und Funktionärsvater, der den Sohn verrät, sowie Jella Haase in der Rolle der jungen Katharina Thalbach.

„Lieber Thomas“ ist zweifellos der ästhetisch aufregendere Film im Vergleich zu Dresens Hommage an eine mutige türkischstämmige Frau, eine Heldin des Alltags. Aber er entpolitisiert die David-gegen-Goliath-Story in seinem Feelgood- Movie zugunsten des Human Touch.

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Der in 20 Kategorien vergebene Filmpreis ist ein Instrument der Kulturförderung, die höchstdotierte Kultur-Exzellenzinitiative Deutschlands, mit allein 250 000 Euro für die Nominierungen in der Hauptkategorie Bester Film und weiteren 250.000 Euro allein für die Lola in Gold. Insgesamt werden knapp drei Millionen Euro vergeben.

Sie stammen aus der Schatulle der Kulturstaatsministerin, speisen sich also aus Steuergeldern. Das ist der gravierende Unterschied zu den undotierten Oscars, Cesars, Baftas oder Goyas, die den Preisträgern Prestige bescheren und höchstens indirekt für mehr Geld in der Kasse sorgen.

Eine Prämisse, an die immer wieder erinnert werden muss. Ein Missstand ist deshalb nicht weniger ärgerlich, weil er perpetuiert wird und man es eigentlich müde ist, immer wieder zu argumentieren.

Dass man über Kunst nicht abstimmen kann (wie die knapp 2200 wahlberechtigten Mitglieder der Deutschen Filmakademie), sondern nur streiten.

Dass eine qualifizierte Jury – und keine Politproporz-Jury wie bis 2005, bevor die Akademie übernahm – sich eher für das größte Wagnis als für das konsensfähigste Werk entscheidet als die Schwarmintelligenz der obendrein zwangsläufig befangenen Branche.

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Oder dass etwa letztes Jahr nicht die herausragendste Filmkunst mit Gold prämiert wurde, Dominik Grafs Kästner-Adaption „Fabian“, sondern Maria Schraders gefälligeres Science-Fiction-Melodram „Ich bin dein Mensch“.

Schrader ist eine großartige Schauspielerin und Regisseurin, aber ihr bislang bestes Werk, „Vor der Morgenröte“, ging 2016 komplett leer aus.

Auch dieses Jahr fehlen schon bei den Nominierungen für den besten Film qualitativ herausragende Produktionen, vor allem Sabrina Sarabis eindrücklich-stilles Bauerndrama „Niemand ist bei den Kälbern“.

Lediglich Saskia Rosendahl wurde bei den Hauptdarstellerinnen vorausgewählt. Stattdessen konkurriert Konfektionsware mit um den Hauptpreis.

Das Gefängnisdrama "Große Freiheit" ist achtmal nominiert

Karoline Herfurths Beziehungsdramödie „Wunderschön“ und Sönke Wortmanns Uni-Lehrstück „Contra“ über einen chauvinistischen Professor und eine verkannte Migrantin greifen zwar virulente Sujets auf: sexistischen Schönheitswahn und Rassismus in der akademischen Welt.

Herfurth knöpft sich mit Witz und Verve überkommene Frauenbilder vor, aber Kinobilder kreiert sie nicht daraus. Wortmann gelingt nicht mehr als eine zeitgenössische Variante des überkommenen Plots von „My Fair Lady“.

Ein Mann will einer Frau das richtige Sprechen beibringen (beim Debattier-Wettbewerb), was umgekehrt dazu führt, dass sie ihn vom Unhold zum Menschen macht. Die Bilder kommen über das Niveau einer Durchschnitts-TV-Produktion nicht hinaus.

Schweigemarsch in Washington: Bernhard Docke (Alexander Scheer) und Rabiye Kurnaz (Meltem Kaptan) in einer Szene des nominierten Films "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush"
Schweigemarsch in Washington: Bernhard Docke (Alexander Scheer) und Rabiye Kurnaz (Meltem Kaptan) in einer Szene des nominierten Films "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush"

© dpa

Selbstverständlich braucht eine gesunde Filmindustrie solche Titel, braucht Publikums- und Kassenerfolge – nur gibt es dafür zahlreiche andere Fördertöpfe. „Wunderschön“ sahen 1,5 Millionen Zuschauer, „Lieber Thomas“ 62.000.

Der Filmpreis kann die hierzulande historische Kluft zwischen Filmkunst und Kommerz nicht schließen. Aber er kann mit dazu beitragen, dass die Kunst überlebt.

Gut, da ist Sebastian Meises erschütterndes Gefängnisdrama „Große Freiheit“ (acht Nominierungen) mit Franz Rogowski und Georg Friedrich über die Verfolgung Homosexueller in Deutschland vor der Abschaffung des Paragrafen 175. Noch ein Zeitgeschichtsstoff, und wie „Lieber Thomas“ kongenial verfilmt.

Wieso laufen deutsche Film so wenig in Cannes und Venedig

In der schwarzen, entmenschlichenden Hölle des Knasts lindert oft einzig das Funzellicht einer glimmenden Zigarette die Dunkelheit, in einer Welt ohne Himmel, ohne Hoffnung.

Das spärliche Licht modelliert die geschundenen, behutsam von der Kamera eingefangenen Körper – wenn Kamerafrau Crystel Fournier keine Auszeichnung gewinnt, haben die Akademisten keine Augen im Kopf.

Dumm nur, dass „Große Freiheit“ eine zur Hälfte österreichische Produktion ist, mit einem österreichischen Regisseur, teils österreichischem Cast, weitgehend in Magdeburg gedreht, aber paritätisch produziert.

Als Meises Film 2021 in Cannes in der Reihe „Un certain regard“ Premiere feierte, wurde er als österreichische Produktion wahrgenommen, er war sogar der österreichische Kandidat für den Oscar 2022.

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Erst recht wäre kein Festivalbesucher letztes Jahr in Venedig auf die Idee gekommen, „Spencer“, die Nummer 6 unter den Gold-Lola-Anwärtern, für einen deutschen Film zu halten. Kristen Stewart spielt Lady Di, Regie führt der Chilene Pablo Larraín bei dieser Nahaufnahme einer die Konventionen der Royals sprengenden und doch daran erstickenden Frau: der vierte Zeitgeschichtsstoff bei den Hauptkandidaten.

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Wie „Lieber Thomas“ und „Große Freiheit“ porträtiert auch „Spencer“ eine auf tragische Weise unfreie Figur, diesmal in einem mit Bedacht paranoisch-überzüchteten Ambiente. Vielleicht lässt sich die Häufung solcher Leindwandcharaktere auch als Symptom für den immensen Druck lesen, unter dem Menschen aktuell leiden.

„Spencer“, ein deutscher Film? Produziert hat ihn Komplizen Film aus Berlin, majoritär, wie es heißt. Auch hier wurde überwiegend in Deutschland gedreht. Knapp fünf Millionen Euro deutscher Fördergelder stecken in der 18-Millionen- Dollar-Produktion, an der sonst Großbritannien, die USA und Chile beteiligt sind, anscheinend mit jeweils geringeren Summen. Was „Spencer“ laut Regularien die Lola-Teilnahme erlaubt.

Nichts, überhaupt nichts gegen Koproduktionen. Als Filmland ist die Bundesrepublik ohnehin zu klein, damit Titel sich an den hiesigen Kassen amortisieren. Auch nichts gegen die kreative Leistung der Komplizen-Filmer:innen Maren Ade, Jonas Dornbach und Janine Jackowski.

Hat sich die deutsche Filmszene mit dem Mittelmaß abegfunden?

Akademiegeschäftsführerin Anne Leppin verweist darauf, dass so etwas schon öfter vorgekommen sei, als Beispiele führt sie „Cloud Atlas“ von Tom Tykwer (und den Wachowskis) sowie Roland Emmerichs „Anonymus“ an.

Aber das sind deutsche Regisseure. Es stimmt schon, die Preisgelder gehen gar nicht an sie, sondern an die Produzenten. Das macht die Irritation jedoch nicht kleiner.

Denn woran liegt es, dass für kreative deutsche Produzenten internationale Themen und Filmschaffende offenbar attraktiver sind? Wieso laufen hiesige Regiearbeiten in Cannes und Venedig nur noch höchst selten im Wettbewerb?

Hat sich die deutsche Filmszene mit dem eigenen Mittelmaß abgefunden, bescheidet sich mit zwei, drei künstlerisch halbwegs herausragenden Produktionen im Jahr? Gilt ansonsten jetzt neben der wirtschaftlichen auch die kulturelle Förderdevise, Hauptsache, in Deutschland wird gedreht?

Mal abgesehen davon, dass die Zuschauerin von Maren Ade lieber bald wieder einen Film sehen würde anstelle einer Produktionsleistung, sechs Jahre nach „Toni Erdmann“.

Claudia Roths Vorgängerin Monika Grütters hatte zu Beginn ihrer Amtszeit als Kulturstaatsministerin versucht, der schwächelnden Filmkunst aufzuhelfen und dem Nivellierungseffekt durch Ländertopf-Föderalismus und einflussreiche, da mitproduzierende TV-Sender mit gezielterer Kulturförderung entgegenzuwirken.

Geändert hat sich nichts. Ein Grund mehr, dass Roth den Ball aufnimmt. Schließlich ist sie es, die am Ende der Gala die Lola-Statuetten für den besten Film überreicht, in Gold, Silber und Bronze.
Zeitversetzte Ausstrahlung der Lola-Verleihung im Ersten, 24. Juni, ab 22.55 Uhr

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