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Der in Berlin lebende israelischen Autor Tomer Dotan-Dreyfus.

© Shai Levy

Tomer Dotan-Dreyfus und sein Roman „Birobidschan“: In der sibirischen Flüsternis

Die Muttersprache von Tomer Dotan-Dreyfus ist Hebräisch. Seinen Debütroman „Birobidschan“, der von einem jüdischen Ort in Sibirien erzählt, hat er auf Deutsch geschrieben. Ein Treffen.

Von Marina Klimchuk

Während seines Studiums belegte Tomer Dotan-Dreyfus einen Sommersprachkurs: Jiddisch. Als ihn im Unterricht Langeweile plagte, zückte er unter dem Tisch sein Telefon und tippte heimlich: „Wo ist Jiddisch Amtssprache?“ Er war sich sicher, die Antwort zu kennen: nirgends. Die Suchmaschine überraschte ihn. In Birobidschan, antwortete sie, einer jüdisch-autonomen Republik Ostsibiriens.

Birobidschan ist der einzige Ort auf der Welt, in dem Jiddisch jemals zur offiziellen Sprache erklärt wurde. Obwohl Jiddisch die Muttersprache seiner Großeltern gewesen war, die den Holocaust überlebten, hatte Dotan-Dreyfus noch nie von Birobidschan gehört. Die Geschichte über jenes Schtetl zwischen den Flüssen Bira und Bidschan im entlegensten Winkel Russlands, das auch in seinem Familien- oder Freundeskreis niemand kannte, beschäftigte ihn.

Acht Jahre später ist „Birobidschan“, der Debütroman von Tomer Dotan-Dreyfus, erschienen. An einem Sonntagmorgen im März reibt er sich bei einem Zoom-Gespräch grummelnd die Augen. Zum letzten Mal ausgeschlafen hat er, bevor Lailah vor einem Jahr auf die Welt kam. Seine Partnerin arbeitet an ihren Opernproduktionen, er passt auf das Baby auf. Alle paar Monate wechseln sie sich ab. Wenn er davon spricht, klingt es wie selbstverständlich. Aber was ist das schon?

Dass „Birobidschan“ das Licht der Welt erblicken würde, war lange unsicher. Immer wieder werkelte er an den ersten 20 Seiten herum, schickte sie an Agenturen, klopfte an Türen. Kein Verlag war bereit, ihn unter Vertrag zu nehmen. Dann kam Voland & Quist.

Dotan-Dreyfus’ Muttersprache ist Hebräisch. Aber seinen Roman hat er auf Deutsch geschrieben. Das hat pragmatische und emotionale Gründe. Im Deutschen kann er sich wie ein Kind auf einem Spielplatz austoben, in seiner Muttersprache würde sich das merkwürdig anfühlen. Deutsch lernte er erst mit Anfang zwanzig, als er nach Berlin zog. Heute ist er Mitte dreißig.

Wenn er spricht und schreibt, schleichen sich mal lustige Wortneuschöpfungen ein. „Zensiert“ wird zu „zensuriert“, „Flüstern“ verwandelt sich in „Flüsternis“. Ihm ist nur ein weiterer Israeli bekannt, der deutsche Prosa schreibt. Beide tragen sie den gleichen Vornamen: Tomer Dotan-Dreyfus der eine, Tomer Gardi der andere. Bei der Buchpremiere von Birobidschan in Berlin stand Gardi an der Bar und mixte Drinks für das Publikum.

Als ob das mit der Sprache nicht schon Grund genug für Kopfschmerz wäre, ist Dotan-Dreyfus auch noch Anti-Zionist – eine politische Einstellung, die sich weder in seiner Wahlheimat Deutschland noch in Israel besonderer Popularität erfreut. Von dieser Einstellung zeugt auch sein Doppelname. Dreyfus war der Familienname seines Vaters gewesen, den seine Eltern kurz vor Tomers Geburt ablegten.

Als Bekenntnis zum Zionismus gaben sie sich den hebräischen Namen Dotan. Der erwachsene Tomer Dotan empfand diese Entscheidung als gewaltsamen Eingriff gegen seine jiddischen Wurzeln, gegen die Erinnerung an das Leben, das seine Großeltern in der Diaspora geführt hatten. Er beschloss, zu Dreyfus zurückzukehren.

Vielen gilt Tomer Dotan-Dreyfus als kontroverse Figur. In sozialen Medien wütet er gegen den israelischen Staat und gegen die deutsch-israelischen Beziehungen, denen er eine Obsession mit dem Holocaust attestiert, die aus seiner Sicht in eine blinde Legitimierung israelischer Politik von deutscher Seite ausartet.

Eine geschlossene Siedlung in Sibirien

„Ich hoffe, dass man ‚Birobidschan’ lesen wird, dass man das Politische vom Künstlerischen trennen kann“, sagt er. Mit dem Roman ist ihm ein lesenswertes, obgleich kein massentaugliches Werk gelungen, das man politisch interpretieren kann, aber nicht muss. Vielleicht ein Spiegel jüdischen Lebens, wie er es sich wünschen würde.

Nahe der chinesischen Grenze, acht Flug- und vier Zugstunden von Moskau und zehntausend Kilometer von Kyjiw entfernt, hatte die Sowjetregierung nach der Revolution 1917 die Jüdische Autonome Provinz (JAP) errichtet. Juden sollten in einer geschlossenen sibirischen Siedlung, die zu drei Vierteln aus Taiga, Sumpf und Überschwemmungsgebiet bestand, zu „nützlichen Gliedern“ der Gesellschaft gemacht werden.

Ende der 1920er Jahre trafen die ersten 624 Menschen dort ein, im Glauben, dass Hunderttausende aus der ganzen Sowjetunion ihnen folgen würden. Doch das „bemerkenswerte Geschenk“ der Sowjetregierung, beklagte der spätere Präsident Chruschtschow, sei von den Juden schlecht gedankt worden. Der Umsiedlungsversuch scheiterte. Fast die Hälfte der Neusiedler kehrte aufgrund der unerträglichen klimatischen Bedingungen zurück. Wer kein Geld für den Rückweg hatte, blieb.

Im sowjetisch-antisemitischen Sprachgebrauch schimpfte man, Juden sollten nach Birobidschan. Dort gehörten sie hin. Auch heute gibt es das Städtchen noch, auch wenn inzwischen weniger als ein Prozent der Bevölkerung jüdisch sind. Ganz anders sieht es im „Birobidschan“ von Dotan-Dreyfus aus, von dem er in der jiddischen Tradition des magischen Realismus erzählt.

In einer alternativen Realität, die mehrere Generationen und zeitliche Sprünge umfasst, entwirft Dotan-Dreyfus eine Art sozialistische Gesellschaftsstudie: ein Judentum ohne Antisemitismus, ohne Israel als Bezugspunkt, ohne Nationalismus. Wie könnte so eine Identität aussehen? Die Birobidschaner des Autors, für die sich nach deren Aussage „niemand außerhalb Birobidschans interessiert“ bleiben vom Weltgeschehen isoliert. Sie leben, sterben, halluzinieren, philosophieren, demonstrieren, betrügen und lieben sich in der sibirischen Flüsternis in großartiger diasporischer Selbstverständlichkeit – die immer Fantasie bleiben wird.

Eines Tages, sagt Dotan-Dreyfus, will er von seinen Romanen leben können. Wenn Lailah heute schläft, transkribiert er zum Geldverdienen Zeitzeugengespräche mit Holocaust-Überlebenden, „einen Haufen Traumata“. Die Arbeit deprimiere ihn, deshalb habe er sich als Quereinsteiger auf eine Lehramtsstelle beworben. Das einzige Fach, das er nach seinem Komparatistik-Studium unterrichten darf: Deutsch.

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