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Die 1924 in Fürth geborene Schriftstellerin und Journalistin Ruth Weiss

© privat

Heldinnenepos: Eine Begegnung mit der Holocaust-Überlebenden Ruth Weiss

1924 in Fürth geboren, 1936 nach Südafrika ausgewandert, danach Expertin für den afrikanischen Kontinent: Das Leben von Ruth Weiss ist eines für die Geschichtsbücher - und unermüdlich ist sie auf Lesetour.

Als Ruth Weiss Mitte der achtziger Jahre nach einem intensiven journalistischen Berufsleben in England, Deutschland und insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent darüber nachdenkt, wie es weitergehen und ob sie in Zimbabwe bleiben soll, beschließt sie, sich zurückzuziehen und erste Ruhestandspläne zu entwickeln. „Die Gegenwart und Zukunft gehört den Jüngeren“, schreibt sie in ihrer Autobiografie „Wege im harten Gras“.

Allerdings ist es, das lässt sich auf den letzten Seiten des Buches nachlesen, völlig anders gekommen. So sitzt Ruth Weiss denn auch an diesem Sonntagabend mit ihren 98 Jahren in einer Kreuzberger Dachgeschosswohnung, um Auskunft zu geben über ihr Leben – und sich auf zwei Abende in Berlin vorzubereiten. Zum einen im Jüdischen Museum, wo sie ein Zeitzeugengespräch führen wird, zum anderen einen Tag später in der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, wo es um die „Friedensarbeit von Frauen in kriegerischen Zeiten“ gehen soll. Die Woche zuvor erst war sie in ähnlicher Mission in Frankfurt und in Köln, Termine in Potsdamer Schulen folgen in der letzten Septemberwoche ebenfalls noch.

Natürlich stellt sich die Frage, was sie in ihrem hohen Alter antreibt? „Ich gehe vor allem in Schulen“, sagt Weiss, „aus zwei Gründen. Der erste ist, dass es nicht mehr viele Überlebende gibt, meine Generation ausstirbt. Der zweite, dass ich jungen Menschen etwas vermitteln möchte – auch weil ich in den Schulen jedes Mal wieder merke, dass in den Elternhäusern der Kinder über den Holocaust nicht gesprochen wird. Dafür finde ich diese Zusammentreffen gut. ,Wie war das für Sie?‘, können mich die Schüler fragen, selbst wenn ich nur über drei Jahre sprechen kann.“

Jetzt sollte ich nicht mit einem schwarzen Kind spielen dürfen?

Ruth Weiss

Tatsächlich verliert Ruth Weiss’ Vater Richard Löwenthal schon 1933 seinen Job als Kaufmann in der Spielwarenbranche und bekommt von seiner Familie eine Schiffspassage nach Südafrika geschenkt. Drei Jahre später, 1936, holt er seine Frau und die beiden Töchter nach. Für Weiss, die 1924 in Fürth geboren wurde, sind es prägende Jahre, in denen sie auf die Israelitische Realschule Fürth geht, bevor sie das „Glück“ hat, wie sie es bezeichnet, nach Johannisburg auswandern zu können.

Glück meint in diesem Fall nicht nur, den Nazis und damit dem Tod in den Konzentrationslagern zu entkommen, sondern auch, dass man ab 1936 in Südafrika versuchte, die Einwanderung zu unterbinden, und Weiss auf einem der letzten Schiffe ins Land kam. Was sie naturgemäß nicht ahnte: Dass die Turbulenzen in ihrem Leben weitergehen sollten. Gleich nach ihrer Ankunft bemerkt sie, dass wie in Deutschland auch in der für sie neuen Welt Menschen ausgegrenzt werden; es solche erster, zweiter, gar dritter Klasse gibt.

„Wir wohnten in einem sogenannten armen weißen Vorort, nicht in den typischen Migrantenvierteln, weil mein Vater schon länger da war. Dass heißt, dass unser Umfeld aus Buren bestand – Afrikaans war die erste Sprache, die ich sofort lernte –, und dadurch bekam ich ein Verständnis für die Einstellung der Buren zu den Briten – und auch gegenüber den schwarzen Einheimischen. Dieses Verständnis war für mich der Einstieg zu ihrer calvinistisch-fundamentalistisch-christlichen Religion, von der ich vorher natürlich überhaupt keine Ahnung hatte.“

Sie lernt Nelson Mandela kennen, ist mit Nadine Gordimer befreundet

Weiss erlebt, wie mehrmals in das Geschäft ihres Vaters eingebrochen wird und ein Nachbar sofort einen Schwarzen als Täter nicht nur festsetzt, sondern sogleich verprügelt. Der Vater soll in der Polizeistation bestätigen, dass der Mann der gesuchte Einbrecher ist, was er nicht tut. Oder sie erlebt, wie ihr von Nachbarn untersagt wird, das Baby ihrer schwarzen Haushaltshilfe auf den Arm zu nehmen, das gehöre sich hier nicht. „In Deutschland durften die Kinder nicht mit mir spielen, und jetzt sollte ich nicht mit einem schwarzen Kind spielen dürfen?“

Weiss bekommt einen Streik schwarzer Bergarbeiter mit, erste Busboykotte und auch, wie der ANC, der African National Congress, sich zu radikalisieren beginnt. Nelson Mandela und andere gründen die „Youth League“, „um die elitäre Führergarde zum Handeln zu zwingen und die bisherige Politik der Bittschriften an die Behörden zu beenden“, schreibt Weiss in ihrer Autobiografie. „Ihnen war klar, dass sich das Land im Wandel befand. Immer mehr Schwarze wurden mit der Industrialisierung in die weißen Gebiete gezogen und stießen in allen Lebenslagen noch mehr als bisher an die Rassengrenzen.“

Sie wird Mitglied in einer Gruppe meist kommunistischer Juden, auch künstlerisch Gleichgesinnter und Interessierter, arbeitet in einem Buchladen, danach in der Versicherungsbranche, lernt ihren Mann Hans Weiss kennen, einen Redakteur des „Berliner Tageblatt“, und verfasst für diesen auch Artikel, wenn dieser krankheitsbedingt ausfällt.

Wie schreibt es die südafrikanische Schriftstellerin Nadine Gordimer, mit der Weiss befreundet war, im Nachwort von „Wege im harten Gras“: „Unerwarteterweise fand ich heraus, dass diese schüchterne junge Frau, die so augenscheinlich eine unterwürfige Schülerin zu Füßen ihres Mannes war, in Wahrheit jene Aufsätze mit politischen Analysen über die 50er und 60er Jahre in Südafrika schrieb, die unter dem Namen ihres Mannes in bedeutenden deutschen Zeitungen erschienen.“

Spricht man Weiss heute darauf an, findet sie darauf keine wirkliche Antwort, „ja, das ist heute unvorstellbar“. Zumal sie sich nach der Trennung von Hans Weiss entscheidend emanzipierte als einerseits renommierte Finanzjournalistin, andererseits engagierte Politreporterin, die den Unabhängigkeitsbewegungen in Sambia und dem heutigen Zimbabwe sowie den Anti-Apartheids-Bestrebungen in Südafrika viel Sympathie entgegenbrachte. Sie interviewt Nelson Mandela vor seiner Verhaftung, arbeitet für südafrikanische Zeitungen, verlässt den Kontinent, darf nach 1966 sehr lange nicht in Südafrika und das damalige Süd-Rhodesien einreisen, arbeitet für die „Deutsche Welle“, den „Guardian“, die „Times of Zambia“.

Nach der Lektüre ihrer bewegten Biografie, nach der Unterhaltung mit ihr fühlt man sich bisweilen erinnert – trotz der vielen Unterschiede – an das Leben der französischen Résistance-Kämpferin Anne Beaumanoir, das Anne Weber in ihrem Buch „Annette – ein Heldinnenepos“ erzählt hat. Ein Heldinnenepos, das ist auch das Leben von Ruth Weiss.

Was in Ländern wie Kenia, Zimbabwe und Südafrika vor sich geht, verfolgt Weiss heute noch, mit viel Sorge: „Ich kenne ja die Leute dort und weiß, wie anders es geworden ist als das, was sie sich erhofft haben. Für die schwarzen Eliten bedeutete Freiheit einfach nur, an die Stellen der Weißen zu gelangen, um es vereinfacht zu sagen. Und viele der Länder begannen nach der Unabhängigkeit sofort darunter zu leiden.“

Nelson Mandela 1997. Ruth Weiss traf ihn Anfang der sechziger Jahre.
Nelson Mandela 1997. Ruth Weiss traf ihn Anfang der sechziger Jahre.

© imago stock&people / imago stock&people

Im Grunde bewegt sich Ruth Weiss mit ihrer gesamten Biografie an den Schnittstellen postkolonialer Diskurse und den jüngsten Antisemitismusdebatten, ohne dass sie im Gespräch näher darauf eingehen will. Doch empört sie sich über das Vergleichswesen, das viele so schnell bei der Hand haben, und sagt: „Man kann Israel nicht als ,Apartheidsregime‘ bezeichnen, wenn man sich für die Sache der Palästinenser einsetzt. Was im Nahostkonflikt passiert, ist mit der Apartheid in Südafrika überhaupt nicht zu vergleichen. Und es ist einfach so: Der Holocaust ist einmalig, unvergleichlich, allein in seinen bürokratischen Vorgängen.“

Nach ihrer journalistischen Karriere, ihrem hochfrequenten Pendeln zwischen Europa und Afrika sowie Wohnorten auf der Isle of Wight und im westfälischen Lüdinghausen lebt Weiss inzwischen bei ihrem Sohn in Dänemark – und schreibt Bücher. Ihr Jugendroman „Meine Schwester Sara“ ist Schullektüre geworden, zuletzt wurde von ihr eine siebenbändige jüdische Familiensaga veröffentlicht.

Die Frage am Schluss, ob der afrikanische Kontinent ihr eine Heimat war – in ihrem Buch heißt es: „Wenn man einmal dort gelebt hat, ist Heimweh nach Afrika eine Krankheit, die einen das Leben lang begleitet“ –, beantwortet sie ausweichend: „Ich habe nirgends wirklich Wurzeln schlagen und sagen können: Das ist mein Land, da gehöre ich hin.“ Wäre sie aber jetzt in ihren Fünfzigern, das sagt Ruth Weiss beim Abschied auch noch, würde sie nach Südafrika zurückkehren.

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