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Ein Wagner-Söldner in den Trümmern von Bachmut.

© IMAGO/SNA/IMAGO/RIA Novosti

Prigoschins Putsch: Der kurze Tanz der Lüge mit der Wahrheit

Ein Miliz-Milliardär stürmte Richtung Moskau und wieder zurück: Dynamische Akte eines zeitgenössischen Dramas, das beide Seiten entlarvt, seine wie die des Kremls. 

Von Caroline Fetscher

Alle Welt reibt sich die Augen, als sei ein Spuk vorbei – oder eine Verheißung. Rund um die Uhr sah es einen Tag lang so aus, als sei die Macht im Kreml ernsthaft herausgefordert, als könne dessen Oberhaupt stürzen und flüchten. Jäh endete dann der Aufstand, den „Putins Koch“ Jewgeni Prigoschin, Betreiber der Söldnertruppe Wagner, angezettelt hatte. Nach einem halben Marsch auf Moskau kam das Zurück-marsch-marsch.

Mit der straffreien Entlassung ins Exil fand das Prigoschin-Drama seinen vorerst letzten Akt. Die Dynamik des Dramas trieb Öffentlichkeit und Medien derart vor sich her, dass einige der aus sozialpsychologischer wie politischer Sicht erstaunlichsten Akte erst im Lauf der Zeit stärker in den Vordergrund rücken werden. Der vielleicht erstaunlichste war der kurze Tanz der Lüge mit der Wahrheit.

Prigoschin hatte in einer Botschaft auf seinem Telegram-Kanal vor dem Aufbruch seiner angeblich fünfzigtausend Mann zum Aufstand gesagt, was auf russischer Seite bisher fast nur Dissidenten in der Diaspora zu sagen wagen, nur schärfste Kremlgegner und Kriegskritiker. Im Kern spiegelte er die Kenntnisse und Aussagen der Nato-Partner zu Putins konstruierter Angriffsbegründung.  

„Vor dem 24. Februar [2022] war gar nichts Besonderes geschehen“, erklärte Prigoschin. „Das Verteidigungsministerium versucht die Öffentlichkeit und den Präsidenten irrezuführen und erfand die Story, es gebe einen wahnwitzigen Grad an Aggression vonseiten der Ukraine, sie werde zusammen mit dem Nato-Block angreifen.“ 

Krach mit dem Verteidigungsminister

Nein, es habe lediglich gelegentliche Scharmützel in der Ostukraine gegeben, wie sie seit 2014 vorkamen. Selenskyi sei bereit gewesen, dafür nach Lösungen zu suchen. Man hätte nur „vom Olymp herabsteigen“ und verhandeln müssen.

Nach diesem stupenden Ausflug in die Wahrheit spann Prigoschin sein eigenes Garn. „Für die Spezialoperation gibt es einen ganz anderen Grund“, behauptete er. Es gehe nur darum, dass „ein paar Kreaturen sich selber feiern können“, auf Kosten des Lebens tausender „unserer Jungs“. „Geisteskranke Idioten“ machten „junge Russen zu Kanonenfutter“.

Die Attacke galt Verteidigungsminister Schoigu, gegen den er seine bekannten Vorwürfe wiederholte: Die Invasion der Ukraine sei miserabel geplant, seine Söldnertruppe erhalte zu wenig Material.   

So eindeutig Prigoschin die Lügen zur Kriegsursache benannte, so unklar blieb sein eigenes Motiv. Wenn ihm das Konstrukt so klar vor Augen war, wieso hat er das Lügenspiel mitgemacht? Warum der Putsch erst jetzt, nach so vielen Toten?

Es geht um Geld, Macht und Prestige

Unmöglich hätte er seine eine, allerklarste Wahrheit einräumen: Geld. Geld und Machtrausch und Prestige – all das, was er bei Schoigu vermutet. Hinzu kommt möglicherweise Prigoschins Brüderrivalität oder sein ödipales Hadern mit dem einstigen Gönner und Freund Putin.

Begonnen hatte die jüngste Serie der Zornanfälle Prigoschins nach der Aufforderung des Verteidigungsministeriums, Wagner-Söldner reguläre Verträge mit der Armee abschließen zu lassen. Prigoschins Einflussbereich wäre damit erheblich verkleinert, der finanzielle Verlust für ihn groß geworden.

Aufgebracht wetterte er so, wie sich ein guter Chef beim Konzern für seine Leute einsetzt, und schnaubte sinngemäß: Wenn die jetzt unterschreiben, bekommen sie Sold und Rente - aber was wird aus den Angehörigen meiner zwanzigtausend Gefallenen, die nicht mehr unterschreiben können?! Ungesagt blieb: Erhalten diese nichts oder wenig, kratzt das an meinem Ruf.

Einer seiner nächsten Wutausbrüche auf Video enthielt dann die Wahrheit über die Kremllügen zum Krieg. Prigoschin schien im Gestus dessen zu sprechen, der sich und der Welt demonstriert: Jetzt ist mir alles egal, jetzt sage ich auch das!

Kalkül und Irrationalität

Aufgeladen mit dem Affekt, in dem er den Cocktail aus Kalkül und Irrationalität attackierte, den der Kreml der Bevölkerung serviert, war Prigoschin nicht bewusst, was er dabei über sich selber preisgab. Er merkte nicht, wie deutlich er sich bei seinem kurzen Tanz mit der Wahrheit selber von allen Seiten sehen ließ. Zu sehr ist der Verkauf solcher Cocktails Teil seines eigenen Geschäfts.

Ohne dass er es so benannte, und vermutlich ohne dass es allen, die ihn hören, unmittelbar in voller Tragweite bewusst wurde, hatte Prigoschin mit dem Entlarven der Kriegslüge ja den Opportunismus eingeräumt, mit dem er sich dazu verhalten hatte.

Sinngemäß belegte seine Ego-Logik: Wider besseres Wissen war ich bereit, die Manipulation der russischen Bevölkerung mitzutragen. Ich habe das Leben meiner Mitarbeiter riskiert und geopfert, und das aus purem Interesse am Profit meiner Privatarmee. Ich habe Leute verheizt. Aber schuld ist der Minister, der mir für den falschen Kampf nicht genug richtiges Geld geben wollte.

Sympathien in der Bevölkerung

Im dunklen Stollen des Lügengebirges hat Prigoschin Scheinwerfer aufgestellt, deren Lichtkegel sich auch auf ihn selber richten. Bei der regulären Armee wie in der Bevölkerung hat Prigoschin offenbar viele Sympathisanten, worauf auch der Applaus und die Jubelchöre am Wegrand („Wagner, Wagner!“) beim Rückzug der Söldner weisen.  

Solche Sympathie erntete er allerdings lange vor dem Benennen der Kreml-Konstrukte, nicht als Entlarver offizieller Lügen, sondern weil der Wagner-Boss als der brachiale. unkonventionelle Kriegsheld galt, der nicht lang fackelt, sondern handelt und Befehle erteilt, der „Koch“, der die Suppe der nationalen Emotionen würzt.

Die Sympathiewelle dürfte abebben, nicht zuletzt, je deutlicher Prigoschins Ego-Logik ins Bewusstsein einsickert, und erst recht, nachdem er sich ins offiziell gestattete Exil abgesetzt hat. Daran, dass die Ereignisse vom 24. Juni 2023 das Prestige von Präsident Putin beschädigt haben, besteht kein Zweifel.

Soweit hätte er es nie kommen lassen dürfen. Aber mit der Abschiebung des Aufständischen hat die Reparaturarbeit begonnen. In der regulären Armee wird jetzt eventuell den Versuch der Säuberung im stalinistischen Stil geben, um Kollaborateure der Wagnertruppe auszusortieren.  

Um eine wirkmächtige Revolte anzuzetteln ist der Typus Prigoschin offenbar zu erratisch, zu egoitär, zu ungehobelt. Er ist weder gefasst wie ein klassischer Militär noch charismatisch wie ein humanistischer Friedenspreisanwärter. Vielmehr hat er sich vollends als Miliz-Milliardär entlarvt, der sich eine private Armee hält wie einen Fußballclub, den man aufs Spielfeld schickt, um Tantiemen zu kassieren, und der den Club verkauft, wenn das Stadion leerer wird.  

Indirekt offenbarte dieser kurze Tanz der Lüge mit der Wahrheit aufs Neue die Erkenntnis, dass und wie Kapitalismus ohne Demokratie und Rechtsstaat nicht viel mehr hervorbringt, als Oligarchenwillkür, Destruktivität und Kleptokratie.  Solche Systeme schwemmen Leute wie Prigoschin vorübergehend nach oben - und halten einen wie Putin an der Macht.

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