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In die Gegenwart geholt: Eine Seite aus „Corto Maltese - Die Königin von Babylon“.

© Verlag Schreiber & Leser

Der neue Corto-Maltese-Band „Die Königin von Babylon“: Vom Berghain nach Bagdad

Bastien Vivés und Martin Quenehen setzen mit „Die Königin von Babylon“ ihre Neuinterpretation von Hugo Pratts Corto-Maltese-Saga fort und feiern die Ambiguität.

Venedig. Einst mächtige Seemacht, Umschlagplatz zwischen dem Byzantinischen und dem Heiligen Römischen Reich. Doch Reiche vergehen, nur der Markt ist ewig. Auch wenn die Güter sich ändern. „Früher ging es um Sklaven, Gold und Silber. Heute sind es Waffen aus Ex-Jugoslawien“, sagt der ehemalige Krieger und heutige Gangster Celo, als er zwischen serbischen Generälen und irakischen Sicherheitsdiensten an Bord einer Jacht in der Lagune steht und Kokain durch einen 500-Euro-Schein zieht.

Es ist das Jahr 2002. Der eine Krieg ist zu Ende, der nächste hat noch nicht angefangen. Oder vielleicht ist es auch wie Celo sagt: „Der Krieg ist niemals zu Ende.“ Denn kurz danach ist einer der Generäle tot und Corto Maltese mitten in einem neuen Abenteuer, das ihn vom Berghain über den Balkan nach Babylon führt.

2022 verlegten Bastien Vivès und Martin Quenehen mit „Schwarzer Ozean“ erstmals Hugo Pratts legendäre Comic-Saga über den Seemann Corto Maltese, den wohl berühmtesten Phlegmatiker der Comicwelt, in die Zeit um die Jahrtausendwende. Statt Erstem Weltkrieg bestimmte 9/11 die Schicksale. „Die Königin von Babylon“ schließt nun fast nahtlos daran an, zeitlich, wie inhaltlich.

Im Graubereich: Eine Szene aus „Corto Maltese - Die Königin von Babylon“.
Im Graubereich: Eine Szene aus „Corto Maltese - Die Königin von Babylon“.

© Verlag Schreiber & Leser

In heutigen Zeiten ist Martin Quenehens Seemannsgarn fast eine Provokation

Gemeinsam mit Semira, Celos einstiger Kampfgefährtin im Balkankrieg, begibt sich Corto nach der Party auf einen Raubzug. Ein Schiff voller Waffen, ein Tresor voller Geld. Der Überfall läuft allerdings aus dem Ruder. CIA-Agenten sind an Bord. Sturmgewehre rattern in der Nacht. Es folgen: Flucht, Verrat, Täuschung und immer wieder der Tod. Das Tempo ist hoch, der Unterhaltungswert auch.

Eine weitere Seite aus dem besprochenen Band.
Eine weitere Seite aus dem besprochenen Band.

© Verlag Schreiber & Leser

Dabei bleibt vieles im Graubereich. Nicht nur in den Bildern, in denen Bastien Vivès den nüchternen, oft flächigen und, was Gesichter und Hintergründe angeht, gerne rudimentären Strich Pratts einmal mehr erstaunlich gut kopiert. In strengen Panels entwirft er mit wenigen Strichen eine plastische Welt, deren Leerstellen genau das nicht sind. Automatisch füllt das Gehirn beim Lesen, was die Augen nicht sehen. Die Welt entsteht buchstäblich im Kopf. Das ist wahrhaft interaktives Lesen.  

Doch auch in der Geschichte bleibt vieles im Dazwischen. In unserer Welt, die getrieben von Social Media und gesellschaftlicher Polarisierung immer mehr Eindeutigkeit verlangt und kaum mehr Ambiguität aushält, ist Martin Quenehens Seemannsgarn fast eine Provokation.

Bastien Vivès (Zeichnungen) und Martin Quenehen (Szenario): „Corto Maltese – Die Königin von Babylon“, Schreiber & Leser, 192 Seiten, 24,80 Euro
Bastien Vivès (Zeichnungen) und Martin Quenehen (Szenario): „Corto Maltese – Die Königin von Babylon“, Schreiber & Leser, 192 Seiten, 24,80 Euro

© schreiber & leser; Bearbeitung: Tagesspiegel

Bastien Vivès dem in der Vergangenheit vorgeworfen wurde, mit seinen Zeichnungen Pädophile und Vergewaltigung zu verharmlosen, hat damit Erfahrung. Nachdem mit einer Online-Petition 100.000 Unterschriften gesammelt wurden, sagte die Leitung von Europas größtem Comicfestival in Angoulême Ende 2022 eine Ausstellung von Vivès Werken ab, auch wenn dieser sich nachher entschuldigte und versicherte, es handele sich um ein Missinterpretation.   

Corto war auch bei Pratt stets ein Wanderer zwischen den Welten, keiner Ideologie verpflichtet, kein klassischer Held. Hier nun vertuscht er einen Mord, wechselt Uniformen, geht ein und aus bei Killern, betet vor einem Bild der Gottesmutter Maria und zieht umher mit Roma und opiumrauchenden CIA-Spezialistinnen für Waterboarding, Spitzname Bloody Gina. „Du redest zu viel“, ist alles, was er zu ihr sagt. Verdammung klingt anders.

Und ja, natürlich geht es diesmal wieder um einen Schatz. Aber eine große Rolle spielt das nicht. Anders als in den Storys von Hugo Pratt, von denen vor allem die späteren dem magischen Realismus zuzuordnen sind, dominiert hier die kalte Wirklichkeit. Folgerichtig also, dass Corto am Ende nicht nur mal wieder sein Herz verloren hat, sondern auch noch einen Finger.

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