zum Hauptinhalt
Brigitte Giraud während einer Signierstunde.

© IMAGO/ABACAPRESS/IMAGO/Villette Pierrick/ABACA

Brigitte Girauds Roman „Schnell leben“: Zufall und Schicksal, Schuld und Mitschuld

Die französische Schriftstellerin hat ein ergreifendes Memoir über den Unfalltod ihres Mannes geschrieben. 2022 erhielt sie dafür den Prix Goncourt.

Dieser Roman stellt unzählige Fragen – und beantwortet mit Absicht keine einzige. Musste es zu dem tödlichen Motorradunfall kommen oder ist diese Katastrophe ein Zusammenspiel aus unglücklichen Zufällen? Hat Claude sich überschätzt und die Honda, die seinem Schwager gehörte, unterschätzt? Wäre er überhaupt auf diese „scharfe Bombe“ gestiegen, wenn es an dem Tag geregnet hätte? Wäre alles anders gekommen, wenn seine Frau an diesem Tag nicht in Paris, sondern bei ihm zu Hause in Lyon geblieben wäre? Wenn Claude seinen Sohn nicht von der Schule hätte abholen wollen?

Brigitte Giraud, Jahrgang 1960, erzählt in ihrem Roman „Schnell leben“ eine wahre Geschichte. Am 22. Juni 1999 starb ihr Mann auf einem Boulevard in Lyon bei einem Motorradunfall. Die genauen Umstände konnten laut Polizeibericht nie aufgeklärt werden. Es war ein schöner Sommertag, beim Anfahren an der Ampel bäumte sich die Maschine auf, der Fahrer verlor die Kontrolle. Ein Ölfleck auf der Fahrbahn? Eine Katze, die die Straße überquerte? Gab der Fahrer zu viel Gas?

Ein Roman im Konjunktiv

Das Buch, für das Giraud letztes Jahr mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde, ist ein Roman im Konjunktiv: Was wäre gewesen, wenn, beziehungsweise wenn nicht? Ein privater Super-Gau, beklemmend, anrührend, geschrieben in einem drängenden, kompromisslosen Ton, mit vielen Sprüngen, ohne durchgängigen Plot. Vor dieser düsteren, harten Story gibt es kein Entkommen.

Auch deshalb nicht, weil es um Zufall und Schicksal geht, um die Illusion von Autonomie und Selbstermächtigung. Und um den Klassiker aller Lebensfragen: Wie wäre meine Biografie verlaufen, wenn ich in diesem einen Moment anders abgebogen wäre? Und liegt die menschliche Tragödie nicht gerade in dem scheinbar einfachen Satz des Philosophen Blaise Pascal, auf den Giraud anspielt: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“

Auch die Autorin ist ruhelos. Fast besessen spult sie rund 20 Jahre nach dem Unfall die Zeit zurück, will das Drama unbedingt aufklären. Akribisch recherchiert sie über das schwere Motorrad, die Honda 900 CBR Fireblade, die in Japan nicht zugelassen, sondern für den Export nach Europa reserviert war. Sie stellt sich genau vor, wie Claudes letzter Tag verlaufen ist.

Sie spekuliert detailliert, warum er nicht auf sein eigenes solides Motorrad gestiegen ist, sondern unbedingt die schwere Maschine des Schwagers ausprobieren musste. War es unkontrollierter Mut, Übermut? Dabei war Claude, Leiter der Mediathek in Lyon und Musik-Journalist, ein freundlicher, etwas phlegmatischer Mann, ein guter Vater und zugewandter Ehemann.

Ruhelose Recherche

Also kein Hasardeur, kein Draufgänger. Dieser Mann, so viel wird klar, war Brigitte Girauds große Liebe. Immer wieder wirft sie Schlaglichter auf die glücklichen Momente einer tiefen Zuneigung. Ein Quäntchen Trost auch für die Leser dieses ungewöhnlichen Trauerbuches.

Minutiös beschreibt Brigitte Giraud, warum das Motorrad, dieses Geschoss des Teufels, überhaupt in Claudes Nähe gelangen konnte. Und hier sieht sie eine eigene „Schuld“. Die Autorin hatte sich damals nämlich in die Idee verrannt, in Lyon unbedingt ein Haus kaufen zu wollen. Unermüdlich studierte sie jeden Tag die Immobilien-Anzeigen. Schließlich fand sie ein Haus mit abgeblätterten Fensterläden, das sie aus ihr unerklärlichen Gründen unbedingt haben wollte. Erst sträubte sich der Besitzer, dann stimmte er dem Verkauf zu. Zu dem Haus gehört eine Garage, in der ihr Bruder für kurze Zeit seine Honda 900 CBR Fireblade abgestellt hat – bevor die Familie in das Haus einziehen sollte. Die Garage und das Motorrad wurden Claude zum Verhängnis. Er ist nie in das Haus eingezogen.

„Indem ich meinen Willen durchsetzte, bereitete ich, ohne es zu wissen, die Rahmenbedingungen für den Unfall vor“, schreibt Giraud. Das Motiv der Selbstanklage durchzieht den Roman wie ein roter Faden und macht die Geschichte noch heilloser.

Motiv der Selbstanklage

Giraud gibt sich keine Absolution. Indem sie die genauen Umstände so hartnäckig zu rekonstruieren versucht, recherchiert sie auch gegen ihren Kummer, ihre Verzweiflung an. Dabei beschreibt sie ihre Gefühle mit einer Dringlichkeit und Intensität, als wäre das Unglück gerade erst passiert.

Brigitte Giraud hat einen Liebesroman über einen Abwesenden geschrieben, der eine fast obsessive Spannung entwickelt. „Schnell leben“ ist ein grandioses Memoir und eine hochemotionale Spekulation mit dem Schicksal. Michael Kleebergs Übersetzung gibt den atemlosen Ton des Buches hervorragend wider. Mit dem Titel spielt Giraud auf die Rock’n’Roll-Devise „Live fast, die young“ an. Sie steht auch in einem Buch, das Claude vor seinem Tod gelesen hat. Vielleicht, sinniert sie, ging ihm dieser Satz durch den Kopf, als er das Motorrad beschleunigte.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false