zum Hauptinhalt
Nur durch eine gemeinsame Außenpolitik kann es der EU gelingen, sich international zu behaupten.

© picture alliance / Xinhua News Agency/Yao Dawei

Werte oder Interessen?: Europa muss endlich erwachsen werden

Die EU darf nicht länger wirtschaftlicher Riese und politischer Zwerg sein wollen. Stattdessen muss sie sich in der Selbstbehauptung üben.

Ein Gastbeitrag von Günther H. Oettinger

Zwischen China und den USA wachsen die geopolitischen Spannungen, denn die beiden Länder liegen im Dauerclinch. Es geht um wirtschaftliche Vormachtstellungen und Pekings Anspruch auf Taiwan. Und wie steht es um die Europäische Union? Sie hat keinen strategischen Plan.

Zwar koppelt sich die EU nach Russlands Überfall auf die Ukraine ökonomisch von Moskau ab. Doch während Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mit großer Delegation nach Peking reist, versöhnliche Töne anschlägt und Milliardenverträge mit nach Hause nimmt, kanzelt unsere Außenministerin Annalena Baerbock ihren chinesischen Amtskollegen vor der Weltöffentlichkeit wegen der Nichteinhaltung von Menschenrechten ab und fordert von seinem Land, keine Waffen an Russland zu liefern.

Unterschiedlicher hätten die Auftritte europäischer Spitzenpolitiker in China kaum sein können – zumal Macron in alter gaullistischer Tradition auf mehr Unabhängigkeit von den USA drängt.

Moralische Vorgaben statt materielle Interessen

Die Kritik am Auftritt des französischen Präsidenten war heftig, denn die Außenpolitik des Westens wird zunehmend geprägt von einer Politiker-Generation, die eher an moralische Vorgaben statt materielle Interessen glaubt – und dementsprechend etwa den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Russlands Diktator Wladimir Putin bejubelt.

Annalena Baerbock ist ein prominentes Gesicht der westlichen Außenpolitik. die für mehr Moral steht.
Annalena Baerbock ist ein prominentes Gesicht der westlichen Außenpolitik. die für mehr Moral steht.

© imago/Metodi Popow/IMAGO/M. Popow

Baerbock ist ein prominentes Gesicht dafür. Sie hat die wertegeleitete Außenpolitik noch um das Spezialfach Feminismus bereichert.

Allerdings stellt sich die Frage: Was macht man eigentlich, wenn demnächst mit jenem Mann über einen Waffenstillstand verhandelt werden muss, den man zuvor noch in Den Haag in Handschellen sehen wollte?

Der globale Süden will faire Handelsverträge

Ob es um den Krieg in Europa oder die Abschaffung des Patriarchats geht – auf westliche Belehrungen reagieren viele Länder in Asien, Afrika und Südamerika abwehrend, besonders wenn sie koloniale Erfahrungen haben. Es sind wichtige Länder wie Indien oder Indonesien, die sich den Sanktionen des Westens gegen Russland nicht angeschlossen haben.

Indiens Außenminister Subrahmanyam Jaishankar formuliert das so: „Europa muss aus der Denkweise herauswachsen, dass seine Probleme die Probleme der Welt sind, aber die Probleme der Welt nicht die Probleme Europas.“

Die Länder des Globalen Südens wollen faire Handelsverträge, Investitionen in Infrastruktur und Zugang zu unseren Märkten ohne neue Zölle. Derzeit erschwert die EU-Taxonomie ihnen jedoch den Export und verteuert so ihre Waren.

Europa muss aus der Denkweise herauswachsen, dass seine Probleme die Probleme der Welt sind, aber die Probleme der Welt nicht die Probleme Europas.

Subrahmanyam Jaishankar, indischer Außenminister

Was die Länder nicht wollen, ist Dominanz, weder wirtschaftlich noch politisch oder kulturell. Nicht nur Menschenrechte sind Werte, sondern auch soziale Gerechtigkeit. Für Letzteres aber braucht man Wirtschaft und Handel, Forschung und Wissenschaft. 

Die deutsch-russische Handelsbilanz umfasste 2021 gut 60 Milliarden Euro. Als Russland 2022 die Ukraine überfiel, waren es noch 14,5 Milliarden, wobei bis Mitte des Jahres noch russisches Gas nach Deutschland floss. 

298,6
Milliarden Euro betrug der Warenwert des deutsch-chinesischen Handels 2022.

Zum Vergleich: China war im Vorjahr zum siebten Mal in Folge Deutschlands wichtigster Handelspartner, das Warenvolumen zwischen den zwei Ländern betrug zuletzt 298,6 Milliarden Euro. Vor diesem Hintergrund wirkt die Energie-Krise durch den Wegfall russischer Gaslieferungen wie eine Art Kindergeburtstag. 

Die EU muss sich auf einen Technologiekrieg einstellen

Die China-Besuche von Macron und Baerbock haben eindrucksvoll gezeigt: Die EU hat keine gemeinsame China-Strategie. Genauso wie eine kohärente europäische Außenpolitik kann sie nur in Teamarbeit in Brüssel definiert werden.

Die EU muss endlich erwachsen werden, nicht mehr wirtschaftlicher Riese und politischer Zwerg sein wollen. Das erfordert ein neues Selbstbewusstsein, das auch eine Antwort auf den Protektionismus der USA finden muss.

Nach Macrons Besuch in China wird deutlich, dass die EU keine gemeinsame China-Strategie besitzt.
Nach Macrons Besuch in China wird deutlich, dass die EU keine gemeinsame China-Strategie besitzt.

© PICTURE ALLIANCE / ASSOCIATED PRESS/Ng Han Guan

Man weiß nicht genau, was die USA mehr fürchten: Dass die Chinesen sie wirtschaftlich ein- und überholen. Oder, dass China seine neue wirtschaftliche Macht nutzt, um weltweit an Einfluss zu gewinnen. In jedem Fall geht die US-Führung – schon unter Präsident Donald Trump und jetzt seinem Nachfolger Joe Biden – davon aus, dass China nur noch in diesem Jahrzehnt „eingehegt“ werden kann.

Deshalb wird ein Technologiekrieg geführt, auf den sich Europa einstellen muss. „Vorsprung durch Technik“ war der Werbeslogan von Audi. Das muss Europa jetzt beherzigen. Nur durch Investitionen in Forschung und Bildung wird Europa auf globaler Ebene ernst genommen. Das gilt für Partnerschaften wie für Sanktionen.

Der Kriegsverbrecher Putin und unser systemischer Rivale China stehen in enger Kooperation mit Indien, Brasilien und Südafrika. An ihrer BRICS-Bank mit Sitz in Shanghai wollen Saudi-Arabien, die Vereinigten Emirate, Ägypten, Algerien, Mexiko und Nigeria Anteile erwerben. Eine kohärente europäische Außenpolitik muss genau an dieser Stelle ansetzen.

Es gilt, jenseits von Russland und China mit den übrigen Staaten gemeinsame Interessen zu formulieren.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false