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Essensausgabe, in der Mitte der Helfer Ilyas

© Susanne Güsten

„Wer Hunger nie gesehen hat, kann das Leben nicht verstehen“: Wie ein Istanbuler Imam Obdachlosen hilft

In seiner Moschee kocht Osman Gökrem für Bedürftige und schneidet ihre Haare. Zu Beginn des Fastenmonats Ramadan fordert er auf, nicht per Online-Spende, sondern vor Ort zu helfen.

Unrasierte Männer mit Mützen drängen sich morgens in der Gasse vor einer kleinen Moschee in Istanbul. Helfer schleppen Kessel voller Bohnensuppe und Reis heran und wuchten sie auf Plastiktische, andere balancieren Tablette mit Limonadenbechern. Gegen halb zehn Uhr eröffnet Imam Osman Gökrem das Buffet: „Kommt, Brüder, esst euch satt“, ruft er, und die Warteschlange setzt sich schlurfend in Bewegung.

Ein Segen sei diese Armenspeisung, sagt ein junger Mann namens Ilyas, der den Reis austeilt. Nicht nur für die Bedürftigen, sondern auch für die Helfer und die Spender.

Barmherzigkeit zeigen durch eigene Initiative

Mildtätigkeit ist eine der fünf Säulen des Islam und besonders wichtig im Fastenmonat Ramadan, der in diesem Jahr in der Nacht zum 11. März beginnt. Aber Mildtätigkeit per Mausklick oder Überweisung auf ein Spendenkonto, wie sich das in der Türkei eingebürgert hat – das gehe gar nicht, findet Imam Osman.

Wer für die Obdachlosen spenden will, die er in seiner Moschee betreut, muss deshalb selbst antreten und die Suppenkelle schwingen. „Wahre Barmherzigkeit kann es nur von Angesicht zu Angesicht geben“, sagt der Imam. Es gebe kein größeres Glück, als einem bedürftigen Menschen zu helfen – und daran will er die Reichen teilhaben lassen.

Imam Osman zeigt in seiner Küche die Fleischvorräte für die Armenspeisung
Imam Osman zeigt in seiner Küche die Fleischvorräte für die Armenspeisung

© Susanne Güsten

Jeder Obdachlose in der Schlange bekommt ein Päckchen mit frischer Unterwäsche und Socken, dazu die warme Mahlzeit. Gegessen wird im Stehen an einer Mauer oder an einem Plastiktisch auf der Gasse, denn die jahrhundertealte Selime-Hatun-Moschee ist winzig und hat keinen Hof.

Rund 150 Obdachlose versorgt der Imam hier jeden Samstag. Um vier Uhr morgens beginnt er mit dem Kochen, auf drei Gasbrennern in einem Verschlag neben der Moschee. Die Zutaten bezahlen wöchentlich wechselnde Spender, die das Essen dann selbst austeilen. Helfer Ilyas zum Beispiel ist mit Kollegen seiner Firma hier, die das heutige Essen bezahlt hat. Imam Osman besteht darauf: Wer Hunger nie gesehen habe, der könne das Leben nicht verstehen.

Essen, Seife und Haare schneiden für Obdachlose

„Der Prophet sagt, wir sollen den Waisen den Kopf streicheln“, sagt er. „Damit meint er nicht nur Geld geben - er meint, wir sollen ihnen die Eltern ersetzen.“ In seiner Moschee dürfen Obdachlose sich nicht nur einmal in der Woche satt essen, sie dürfen dort auch baden. In einem kleinen Bad unter der Moschee gibt es dafür Seife, Duschgel und Handtücher.

Wahre Barmherzigkeit kann es nur von Angesicht zu Angesicht geben.

Osman Gökrem, Imam

Der Tagelöhner Hakan lebt seit vier Jahren auf der Straße. Das Angebot von Imam Osman ist ein Fixpunkt in seinem Leben. „Ich komme jeden Samstag, esse und dusche hier und hole mir frische Unterwäsche“ , erzählt der 30-Jährige in der Warteschlange vor der Essensausgabe. „Ich nehme zwar jeden Job, den ich kriegen kann, aber bei der Wirtschaftslage habe ich keine Chance auf etwas Festes.“

150
Obdachlose versorgt Imam Osman Gökrem jeden Samstag.

Einmal wöchentlich können die Männer sich in der Moschee auch die Haare schneiden und rasieren lassen. Imam Osman lädt dafür Friseure als freiwillige Helfer ein, aber schwierige Fälle muss er selbst übernehmen. Wenn ein Mann viele Jahre auf der Straße gelebt und nie Haare oder Bart geschnitten habe, dann würden ihm die Friseure weglaufen, erzählt er. „Aber mich graust es nicht, auch wenn Läuse und Käfer herauskriechen.“

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Der Imam greift erst zur Schere, um den gröbsten Filz abzuschneiden, und striegelt den festgesetzten Dreck dann mit einem Kamm von der Kopfhaut ab, damit im letzten Schritt der elektrische Haarschneider nicht darin stecken bleibt. „Ich mache vorher ein Selfie mit dem Mann und nachher noch eines“, erzählt der Imam. „Und freue mich, dass ich einen Menschen aus dem Dreck holen konnte.“

Von der Altkleiderkammer der Moschee zur Feldküche

Seit zehn Jahren betreut Imam Osman die Obdachlosen, von denen es nirgendwo im Land so viele gibt wie hier in der Innenstadt von Istanbul. Begonnen habe eigentlich seine Frau, erzählt der 57-Jährige, kurz nachdem er vom Religionsamt an diese Moschee nahe dem zentralen Taksim-Platz versetzt wurde. „Meine Frau sah aus dem Fenster und sagte, die Leute haben Hunger, kannst du sie nicht füttern“, erinnert er sich. „Ich bin zum Markt gerannt und habe Linsen gekauft, sie hat Suppe gekocht, und wir haben sie verteilt.“

Meine Frau sah aus dem Fenster und sagte, die Leute haben Hunger, kannst du sie nicht füttern.

Osman Gökrem, Imam

Acht Jahre lang kochte das Ehepaar in der Küche seiner Dienstwohnung unter der Moschee, und es kamen immer mehr Menschen. „Die ganze Wohnung hat 45 Quadratmeter, mit all den Reis- und Bohnensäcken sah sie irgendwann aus wie ein Lagerraum.“ Schließlich wurde es seiner Frau zu viel. Der Imam funktionierte die Altkleiderkammer der Moschee um zur Feldküche und lernte selbst kochen. „Reis, Kichererbsen, Bohnen, Gulasch, Linsen – das kann ich jetzt alles“, erzählt er.

Ein Mann holt sich Brot zu seiner Suppe. 150 Obdachlose versorgt Imam Osman hier jeden Samstag.
Ein Mann holt sich Brot zu seiner Suppe. 150 Obdachlose versorgt Imam Osman hier jeden Samstag.

© Susanne Güsten

Viel habe sich in diesem Jahrzehnt auf der Straße verändert. „Früher hatten wir hier noch viele obdachlose Kinder und Jugendliche und auch Frauen, viele drogensüchtig“, erzählt der Imam. Heute tauche keine Frau mehr zur Armenspeisung auf und nur ganz selten einmal ein Jugendlicher. Der Altersdurchschnitt seiner Klientel sei von 35 auf 45 bis 50 gestiegen.

Einer verbesserten Sozialpolitik der türkischen Regierung sei das zu verdanken, meint er, die mit Kinderheimen und Frauenasylen die meisten von der Straße geholt habe – „elhamdulillah, Gott sei Dank“, fügt er hinzu: „Eine muslimische Gesellschaft, die Frauen und Kinder auf der Straße liegen lässt, während sie fünfmal am Tag beten geht – das ist Sünde.“

Übernachten in der Moschee verstößt gegen Vorschrift des Religionsamtes

Mit den Behörden ist der Imam nicht immer einverstanden. Die Vorschrift des Religionsamtes, dass niemand in Moscheen schlafen darf, die wollte ihm nicht einleuchten. Ein paar ausgewählte Obdachlose lässt Imam Osman nämlich in der Selime-Hatun-Moschee schlafen, und zwar diejenigen, die arbeiten wollen, um von der Straße wegzukommen. „Nicht die Faulen“, sagt er mit einem Zwinkern.

Wenn man auf der Straße schläft, kann man am Arbeitsplatz nicht funktionieren und wird rausgeworfen.

Osman Gökrem, Imam

Wer aber feste Arbeit findet, der darf in der Moschee schlafen, bis er genug Lohn gespart hat, um ein Zimmer zu mieten. „Denn wenn man auf der Straße schläft, kann man am Arbeitsplatz nicht funktionieren und wird rausgeworfen“, erklärt er. „Wir wollen, dass sie lernen, zu arbeiten und sich selbst über Wasser zu halten. Dafür brauchen sie einen Ort, wo sie sich abends ausruhen, schlafen und duschen können.“

Imam Osman reichte Selbstanzeige beim Mufti von Istanbul ein, seiner vorgesetzten Behörde beim Religionsamt: Er lasse Menschen in der Moschee schlafen und wolle wissen, warum das verboten sei. Das Religionsamt bestellte ihn ein, konnte aber keine gesetzliche Grundlage für das Verbot vorlegen. Seither hat er Ruhe.

Nächstenliebe als Lebensmotto

Die Auseinandersetzung bestätigte sein Lebensmotto: „Sei gewiss, dass du Gutes tust, und überlasse alles andere Gott.“ So steht er auch Beschimpfungen und Bedrohungen durch, die er immer wieder aus der Nachbarschaft erfährt.

Seine Moschee liegt hinter einem Luxushotel in einem wohlhabenden Viertel, dessen Einwohner sich teilweise vor den Obdachlosen fürchten. „Die kommen aber nicht selbst zu mir; sie schicken ihren Chauffeur oder Türsteher, um mir zu drohen“, erzählt der Imam. Er übe sich dann in der islamischen Tugend der Geduld – „und irgendwann gibt dann der Chauffeur die Altkleider seines Herrn für die Obdachlosen bei mir ab“.

An Spendern und Helfern für die Armenspeisungen fehlt es Imam Osman nicht – manche kommen aus der Nachbarschaft, manche trecken durch die ganze Stadt, um bei ihm zu helfen. „Meine Liste für den Ramadan ist auch schon voll“, sagt er und zeigt das Papier, auf dem er die Spender für das Fastenbrechen im heiligen Monat eingeteilt hat – dann wird es hier jeden Abend Suppe geben.

Die Vorbereitungen für Ramadan laufen in der Moschee auf Hochtouren. Während draußen Suppe verteilt wird, packen andere Helfer drinnen Kleiderpakete für hunderte Waisen und Kinder armer Familien – für jedes Kind in seiner Kleider- und Schuhgröße, die Imam Osman in monatelanger Kleinarbeit über Sozialbehörden und andere Moscheegemeinden ermittelt hat.

Der Imam freut sich schon auf die Freude der Familien. Die Freude sei auch seine, sagt er, denn Nächstenliebe mache süchtig: „Wenn man das einmal gefühlt hat, will man das immer wieder.“

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