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Die 222 freigelassen politischen Gefangenen wurden von Angehörigen in Washington empfangen.

© REUTERS / KEVIN LAMARQUE

Nicaragua lässt Oppositionelle frei: Freiheit gegen Ausbürgerung

Es kam überraschend: Am Donnerstag wies Nicaragua 222 politische Gefangene in die USA aus. Die Menschenrechtslage im Land ist seit Jahren prekär. Was bezweckt Präsident Ortega?

Sie sehen erschöpft aus, unter ihren Augen zeichnen sich feine Schatten, aber auf ihren Lippen liegt ein sanftes Lächeln. Noch Stunden zuvor waren sie im Gefängnis, jetzt sitzen sie in einem Privatflugzeug. Das Selfie zeigt die ehemalige nicaraguanische Präsidentschaftskandidatin Cristiana Chamorro, ihren Bruder Pedro Joaquín und den Geschäftsführer der Tageszeitung „La Prensa“, Juan Lorenzo Holman.

Am Donnerstag war überraschend bekannt geworden, dass Nicaraguas Machthaber Daniel Ortega 222 politische Gefangene aus der Haft entlassen und in die USA abgeschoben hatte.

Am Morgen wurden die Inhaftierten direkt aus dem Gefängnis an den Flughafen gefahren und starteten von dort nach Washington. Ausgemergelt und erschöpft, ihre Habseligkeiten in Plastiktüten verstaut, aber sichtlich erleichtert wurden sie dort von Angehörigen und exilierten Landsleuten empfangen. Auch US-Präsident Joe Biden hieß sie willkommen.

„Als wir über Washington kreisten, weinten einige, andere fingen an zu singen“, erzählten Flugbegleiter. „Sie waren Geiseln. So willkürlich wie sie festgenommen wurden, so willkürlich werden sie freigelassen“, schrieb der in Spanien im Exil lebende nicaraguanische Autor Sergio Ramírez.

Selfie bei der Ausreise: Die nicaraguanische Zeitung „La Prensa“ veröffentlichte am Donnerstag ein Foto ihres Geschäftsführers Juan Lorenzo Holman (rechts) mit Cristiana und Pedro Joaquín Chamorro.

© AFP / AFP

Die US-Regierung erklärte, es habe sich um eine unilaterale Geste Ortegas gehandelt. Nicaraguas Machthaber bestätigt diese Angaben: Seine Ehefrau und Vize-Präsidentin Rosario Murillo habe die US-amerikanische Botschaft in der Hauptstadt Managua kontaktiert und um die Ausreise der Gefangenen gebeten.

Warum hat Nicaraguas Führung sich zu diesem Schritt entschlossen? Manche Beobachter gehen davon aus, dass der international isolierte Ortega auf eine Lockerung der US-Sanktionen hofft. Gerade die für das Land wichtige Goldindustrie ist von den Strafmaßnahmen betroffen, auch Konten von Ortegas Familie in den USA sind eingefroren.

Es geht uns nicht um die Aufhebung von Sanktionen. Wir verlangen keine Gegenleistung.

Daniel Ortega, Präsident von Nicaragua

Der Staatschef widerspricht: „Es geht uns nicht um die Aufhebung von Sanktionen. Wir verlangen keine Gegenleistung.“ US-Außenminister Anthony Blinken begrüßte die Freilassung als „konstruktiven Schritt“ und „Türöffner für einen weiteren Dialog“.

Eine andere Interpretation ist: Es geht Ortega und Murillo darum, ihre Gegner loszuwerden. Denn die Freigelassenen wurden parallel zu ihrer Ausweisung von einem regimetreuen Richter im Eilverfahren zu Staatsfeinden erklärt. Ihnen wurden die politischen Rechte auf Lebzeiten aberkannt. Das gleichgeschaltete Parlament verabschiedete Medienberichten zufolge außerdem eine Verfassungsänderung, um ihnen die Staatsangehörigkeit zu entziehen.

Ist der Schritt ein Zeichen der Schwäche?

Unter den Freigelassenen befinden sich neben der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Chamorro, ihrem als Journalist tätigen Bruder und Holman noch weitere prominente Köpfe. So zum Beispiel die sandinistische Befreiungskämpferin Dora María Tellez – eine ehemalige Weggefährtin Ortegas –, Studentenführer Lester Alemán sowie der Bauernaktivist und Umweltschützer Medardo Mairena. Ortega selbst nannte die Entscheidung am Donnerstag eine Prinzipienfrage. „Wir wissen, was diese Menschen im Kern denken“, sagte er über die ehemaligen Gefangenen, die für ihn Landesverräter sind.

Carlos Fernando Chamorro, der seine zwei Geschwister in Washington in Empfang nahm, deutet die Aktion wiederum als Zeichen der Schwäche. „Dies ist der erste Schritt in Richtung Freiheit für ganz Nicaragua“, sagte er.

Seit Beginn der Ortega-Regierung 2007 – und vor allem nach 2018 ausgebrochenen, landesweiten Protesten, bei denen mindestens 360 Menschen starben – entwickelte sich der Staatschef immer mehr zum Tyrannen. In einer sogenannten „Säuberungsaktion“ ließ er politische Gegner verhaften, schaltete alle Staatsgewalten gleich, verbot unabhängige Medien und ließ über 3000 zivilgesellschaftliche Organisationen schließen. Viele flüchteten ins Ausland. Laut einem Bericht der UN-Flüchtlingskommission kamen die meisten Asylersuche weltweit 2021 von Nicaraguanern.

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Die nun freigelassenen Kritiker Ortegas erzählten von unmenschlichen Bedingungen während der Gefangenschaft. Familienbesuche seien willkürlich gestrichen, Bücher und Schreibmaterial verweigert worden. Die meisten bekamen viel zu wenig Essen und nur begrenzt Zugang zu ärztlicher Versorgung und Medikamenten – obwohl viele der Gefangenen bereits im Rentenalter und gesundheitlich fragil sind. Menschenrechtsorganisationen, Intellektuelle und Staats- und Regierungschefs aus aller Welt hatten sich für ihre Freilassung eingesetzt, darunter der linke chilenische Präsident Gabriel Boric.

Laut einer Statistik der Interamerikanischen Menschenrechtskommission befinden sich nun noch 23 politische Gefangene in Haft, unter ihnen der bekannte Bischof und Ortega-Gegner Rolando Álvarez. Er hatte das Ultimatum „Ausbürgerung oder Gefängnis“ Berichten zufolge abgelehnt. „Die anderen sollen frei sein, ich werde ihre Strafe verbüßen“, sagte der 56-jährige Álvarez, der zur Zeit unter Hausarrest steht und wegen Verschwörung angeklagt ist. 

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